Das Letzte Einhorn und Zwei Herzen
Gegenangriff über, ehe der Greif wieder in Kampfstellung war. Es war kein bisschen fair, aber jetzt tat mir der Greif nicht mehr leid.
Beim letzten Mal schwang das Einhorn sein Horn seitwärts wie eine Keule und schlug den Greif zu Boden. Doch er war schon wieder auf den Beinen, ehe das Einhorn sich drehen konnte, und sprang doch tatsächlich in die Luft, mitsamt der toten Löwenhälfte und allem, gerade hoch genug, um auf dem Rücken des Einhorns zu landen, wo er mit seinen Adlerklauen krallte und kratzte und versuchte, dem Einhorn das Genick durchzubeißen, so wie er es mit König Lírs Taille gemacht hatte. Ich schrie jetzt, konnte nicht anders, aber das Einhorn bäumte sich, bis ich schon dachte, es würde hintenüberkippen, warf den Greif ab, wirbelte herum und stieß sein Horn durch die Eisenfedern mitten in das Adlerherz. Danach trampelte es noch eine ganze Weile auf dem Greif herum, aber das wäre nicht mehr nötig gewesen.
Schmendrick und Molly rannten zu König Lír. Sie würdigten den Greif keines Blicks und beachteten auch das Einhorn nicht weiter. Ich wollte zu Malka und folgte ihnen dennoch zu der Stelle, wo der König lag. Ich hatte ja gesehen, was der Greif mit ihm gemacht hatte, genauer als sie, weil ich näher dran gewesen war, und ich konnte mir nicht vorstellen, dass er noch am Leben war. War er aber, gerade noch. Er schlug die Augen auf, als wir uns neben ihn knieten, und lächelte uns alle so nett an und sagte: »Lisene? Lisene, ich sollte ein Bad nehmen, was?«
Ich weinte nicht. Molly auch nicht. Schmendrick wohl. Er sagte: »Nein, Majestät. Nein, du brauchst nicht zu baden, wirklich nicht.«
König Lír guckte verdutzt. »Aber ich stinke, Lisene. Ich muss mir in die Hosen gemacht haben.« Er griff nach meiner Hand und hielt sie ganz fest. »Kleines«, sagte er. »Kleines, dich kenne ich. Schäme dich nicht für mich, weil ich alt bin.«
Ich drückte seine Hand, so fest ich konnte. »Hallo, Majestät«, sagte ich. »Hallo.« Ich wusste nicht, was sonst sagen.
Dann war sein Gesicht plötzlich jung und glücklich und wundervoll, und er schaute an mir vorbei ins Weite, versuchte irgendetwas mit seinem Blick zu erreichen. Ich spürte einen Atemhauch auf der Schulter, drehte mich um und sah das Einhorn. Es blutete aus vielen tiefen Kratzern und Bisswunden, vor allem am Hals, aber alles, was man in seinen dunklen Augen sah, war König Lír. Ich rückte beiseite, damit es zu ihm konnte, aber als ich mich wieder nach vorn drehte, war der König tot. Ich bin neun, fast zehn. Ich weiß, wann Leute tot sind.
Das Einhorn stand lange neben König Lírs Leichnam. Ich ging nach einer Weile weg, um mich neben Malka zu setzen, und Molly kam und setzte sich zu mir. Aber Schmendrick kniete weiter neben König Lír und sprach zu dem Einhorn. Was er sagte, konnte ich nicht verstehen, aber an seinem Gesicht sah ich, dass er es um etwas bat, um einen Gefallen. Meine Mutter sagt, sie sieht mir das immer schon an, bevor ich den Mund aufmache. Das Einhorn antwortete natürlich nicht – ich bin mir fast sicher, dass sie auch nicht sprechen können –, aber Schmendrick ließ nicht locker, bis das Einhorn den Kopf drehte und ihn ansah. Da schwieg er, stand auf und ging allein davon. Das Einhorn blieb, wo es war.
Molly sagte, wie tapfer Malka gewesen sei und dass sie noch nie einen Hund gesehen habe, der auf einen Greif losgegangen sei. Sie fragte, ob Malka je Junge gekriegt habe, und ich sagte, ja, aber keins davon sei Malka. Es war so seltsam. Sie versuchte alles, um mich zu trösten, und ich versuchte, sie zu trösten, weil sie’s nicht konnte. Aber dabei fühlte ich mich die ganze Zeit innerlich so kalt, fast so weit weg von allem, wie es Malka jetzt war. Ich drückte ihr die Augen zu, wie man es bei Menschen macht, und saß da und streichelte ihre Flanke immer und immer wieder.
Ich bemerkte das Einhorn gar nicht. Molly musste es gesehen haben, sagte aber nichts. Ich streichelte immer noch Malka und sah nicht auf, bis sich das Horn über meine Schulter neigte. Von nahem konnte man das Blut sehen, das in den schimmerndem Spiralrillen trocknete, aber ich hatte keine Angst. Ich fühlte überhaupt nichts. Dann berührte das Horn Malka, ganz leicht, genau da, wo ich sie streichelte, und Malka schlug die Augen auf.
Sie brauchte eine Weile, um zu begreifen, dass sie lebte. Ich brauchte noch länger. Sie streckte als erstes die Zunge raus und hechelte und hechelte und sah so durstig aus. Irgendwo in der Nähe
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