Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen

Das Letzte Einhorn und Zwei Herzen

Titel: Das Letzte Einhorn und Zwei Herzen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Peter S. Beagle
Vom Netzwerk:
Hunger hatte. Sie blickte in die Gesichter der alten Männer und lauschte den Geräuschen, die ihre gefurchten Lippen und verschrumpelten Kehlen machten, als sie die Suppe schlürften. Sie war froh, dass Haggard seine Mahlzeiten immer allein zu sich nahm – Molly gewann unvermeidlich jeden lieb, für den sie kochte.
    Vorsichtig fragte sie: »Habt ihr je die Geschichte gehört, dass Prinz Lír gar nicht Haggards adoptierter Neffe ist?« Die vier Krieger zeigten nicht die geringste Überraschung bei dieser Frage.
    »Ach«, antwortete der Älteste, »diese Geschichte kennen wir längst. Sie mag wohl wahr sein, denn der Prinz besitzt wahrlich keine Ähnlichkeit mit dem König. Doch was soll’s? Besser, ein gestohlener Fremder regiert das Land als König Haggards leiblicher Sohn.«
    »Doch wenn der Prinz aus Hagsgate stammt«, rief Molly, »dann ist er doch derjenige, der den Fluch, der auf dem Schloss liegt, erfüllen wird!« Sie wiederholte den Vers, den der Mann Drinn im Wirtshaus zu Hagsgate rezitiert hatte:

    Nur Einem aus Hagsgate wird es gelingen,
    das. Schloss zu zerstören, zum Einsturz zu bringen.

    Doch die alten Männer schüttelten nur die Köpfe, bleckten grinsend Zähne, die genau so rostig und brüchig waren wie ihre Helme und Harnische. »Nicht Prinz Lír!«, rief der dritte Mann. »Der Prinz mag tausend Drachen töten, doch ein Schloss wird er nie zerstören, nie einen König stürzen. Das liegt einfach nicht in seiner Natur. Es ist ein pflichtbewusster Sohn, der – leider – nichts anderes im Sinne hat, als sich des Mannes würdig zu erweisen, den er seinen Vater nennt. Der Spruch muss sich auf jemand anderen beziehen, nicht auf Lír.«
    »Und selbst wenn Lír derjenige wäre«, fügte der zweite Mann hinzu, »selbst wenn ihn dieser Fluch zu seinem Vollstrecker bestimmt hätte, so müsste er dennoch scheitern. Denn zwischen Haggard und dem Untergang steht der Rote Stier.«
    Ein Schweigen sprang in den Raum, verdunkelte mit seinem grauenvollen Schatten alle Gesichter, kühlte mit seinem Hauch die heiße Suppe. Die kleine Katze in Mollys Schoß hörte zu schnurren auf, das Küchenfeuer duckte sich. Die kalten Küchenwände schienen sich zusammenzuziehen.
    Der vierte Krieger, der bisher nicht gesprochen hatte, rief Molly durch die Dunkelheit zu: »Das ist der wahre Grund, weshalb wir in Haggards Diensten bleiben. Er will nicht, dass wir gehen, und was König Haggard will oder nicht will, das ist des Roten Stieres einzige Sorge. Wir sind Haggards Diener – und des Roten Stieres Gefangene!«
    Molly streichelte mit steter Hand die Katze, doch ihre Stimme klang gedrückt und trocken. »Was bedeutet denn der Rote Stier für König Haggard?«
    »Das wissen wir nicht«, erwiderte der älteste der Wächter. »Der Stier ist immer hier gewesen. Er dient Haggard als Armee und Bollwerk, er ist sein starker Arm und die Quelle seiner Macht. Er ist wohl auch sein einziger Gefährte, denn ich weiß, dass er vor Tau und Tag über eine geheime Treppe zu seiner Höhle hinabsteigt. Doch ob er Haggard aus freien Stücken oder unter Zwang gehorcht, ob der Stier oder Haggard der wahre Herrscher ist – das wissen wir nicht.«
    Der vierte und jüngste der Männer beugte sich zu Molly Grue, seine feuchten, rosa Augen waren plötzlich voll Eifer. Er sagte: »Der Rote Stier ist ein Dämon! Der Lohn, den er eines Tages für seine Dienste bei Haggard fordern wird, das wird Haggard selber sein!« Ein anderer fiel ihm ins Wort, bestand darauf, es sei ganz sonnenklar, der Stier sei Haggards verhexter Sklave und bleibe es, bis er eines Tages den Zauberbann bräche und seinen Herrn vernichte. Sie fingen zu streiten an und verschütteten die Suppe.
    Molly fragte, nicht laut, aber auf eine Weise, die alle verstummen ließ: »Wisst ihr, was ein Einhorn ist? Habt ihr jemals eines gesehen?«
    Von allen lebenden Wesen im Raum schienen nur die Katze und das Schweigen sie mit irgendeinem Verständnis anzusehen. Die vier Krieger blinzelten und rülpsten, rieben sich die Augen. Tief drunten regte sich wieder ruhelos der schlafende Stier.
    Nach dem Essen salutierten die Soldaten vor Molly Grue und verließen die Küche, zwei in Richtung Bett, zwei in Richtung Turm, um ihre Nachtwache im Regen anzutreten. Der Älteste wartete, bis die anderen fort waren, dann sagte er leise zu Molly: »Hüte dich vor der Lady Amalthea. Als sie hierherkam, da war ihre Schönheit so groß, dass selbst dieses verfluchte Schloss schön ward. Wie der Mond, der ja auch

Weitere Kostenlose Bücher