Das Letzte Einhorn und Zwei Herzen
Abends, bevor sie zu Bett ging, las sie für gewöhnlich Lírs neue Gedichte durch, die er für die Lady Amalthea geschrieben hatte, lobte sie und verbesserte die Rechtschreibung.
Schmendrick riss seine Possen, trieb Mumpitz und Gaukeleien, wie ihm der König gebot; er hasste seine Tätigkeit und war sich im Klaren, dass Haggard dies wusste und sich darüber freute. Er schlug Molly nicht mehr vor, zu fliehen, bevor König Haggard sich wegen der Lady Amalthea ganz sicher war; versuchte nicht mehr, den geheimen Gang zum Roten Stier zu finden, selbst wenn Haggard ihm freie Zeit dafür ließ. Er schien kapituliert zu haben, nicht vor dem König, sondern vor einem weit älteren, grausameren Feind, der ihn endlich eingeholt hatte, in diesem Winter und an diesem Ort.
Die Tage wurden grauer und grimmiger, die Lady Amalthea jedoch schöner mit jedem Tag. Die alten Krieger, die durchnässt und zitternd von ihren Rundgängen herabkamen oder von ihren Diebesfahrten heimkehrten, öffneten sich lautlos wie Blumen, wenn sie ihr auf der Treppe oder in der Halle begegneten. Sie lächelte ihnen zu und gab ihnen gute Worte, doch wenn sie vorüber war, schien das Schloss düstrer als je zuvor, und der Wind rüttelte und schüttelte die Wolken, als wären sie Betttücher auf einer Wäscheleine. Denn die Schönheit der Lady Amalthea war jetzt menschlicher Art und vergänglich, es lag in ihr kein Trost für alte Männer. Ihnen blieb nichts übrig, als ihre tropfnassen Mäntel fester um sich zu ziehen und zu dem schwachen Feuer in der Küche hinabzuhinken.
Doch die Lady Amalthea und Prinz Lír wandelten und sprachen und sangen gemeinsam so glückselig, als hätte sich König Haggards Schloss in einen grünen Wald verwandelt, prangend und schattend vor Lenz. Sie erstiegen die schiefen Türme, als wären es Hügel, picknickten auf Steinwiesen unter steinernem Himmel, planschten Gänge hinauf und hinunter, die sich für sie in muntere Bäche verwandelt hatten. Er erzählte ihr, was er nur wusste, vertraute ihr an, was er über die Welt und über die Liebe dachte, ersann glückselig ein Leben und Meinungen für sie, und sie half ihm dabei, indem sie ihm lauschte. Sie spielte ihm nichts vor, denn sie konnte sich an nichts mehr erinnern, was vor ihm und Haggards Schloss gewesen war. Ihr Leben begann und endete mit Prinz Lír – außer in den Träumen, und die verblassten bald, wie Lír es vorhergesagt.
Nur noch selten vernahmen sie bei Nacht des Stieres Jagdgebrüll; doch wenn sie das drohende Grollen hörte, dann fürchtete sie sich sehr: Der Winter und die Wände richteten sich wieder steil vor ihr auf, so als wäre ihr gemeinsamer Frühling ganz allein die Schöpfung der Lady Amalthea gewesen, das ihrer Freude entsprungene Geschenk an Prinz Lír. Zu solchen Zeiten hätte er sie gerne in die Arme geschlossen, wenn er nicht schon lange ihre Furcht vor Berührung erkannt hätte.
Eines Nachmittags stand die Lady Amalthea auf dem höchsten Söller des Schlosses und wartete auf Prinz Lírs Heimkehr von einer Ausfahrt gegen den Schwager jenes Ogers, den er damals erschlagen hatte, denn ab und zu ging er, wie er es Molly versprochen hatte, doch noch auf eine Ritterfahrt. Der Himmel türmte sich grau und seifig über dem Tal von Hagsgate, doch es regnete nicht. Weit drunten glitt das Meer in silbernen, grünen und tangbraunen Streifen auf einen rauchigen Horizont zu. Die hässlichen Vögel flogen ruhelos zu zweien und dreien umher, kreisten mit schnellen Schwingen über dem Wasser, kehrten zurück und stolzierten am Strand auf und ab, krächzten und kreischten, beäugten mit schiefen Köpfen König Haggards Schloss auf dem Kliff. »Sagteso, sagteso!« Die Ebbe war auf ihrem niedrigsten Stand, gleich musste die Flut einsetzen.
Die Lady Amalthea sang. Ihre Stimme schwebte und schwankte in der trägen, kalten Luft wie ein Vogel:
Ich bin eine Königstochter
und werde grau und alt,
gefangen nicht im Kerker,
im Turm der eigenen Gestalt!
Noch heut ließ alles Gut ich fahren,
zög bettelnd über Land und Meer…
Sie erinnerte sich nicht, dieses Lied schon einmal gehört zu haben, doch die Worte zupften und zerrten an ihr wie Kinder, die sie an einen Platz zurückziehen wollten, den sie gern wiedergesehen hätten. Sie schüttelte sie mit einer Schulterbewegung ab.
»Aber ich bin doch nicht alt«, sprach sie vor sich hin, »und ich bin keine Gefangene. Ich bin die Lady Amalthea, Geliebte des Prinzen Lír, welcher in meine Träume kam, damit ich
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