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Das Letzte Einhorn und Zwei Herzen

Titel: Das Letzte Einhorn und Zwei Herzen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Peter S. Beagle
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sie einander sehr ähnlich seien. Doch dann sagte er: »Ich kenne dich. Ich erkannte dich beinahe im gleichen Augenblick, als ich dich auf der Straße dort unten sah, wie du mit deinem Harlekin und deiner Köchin vor meiner Tür standest. Seit damals hat dich jede deiner Bewegungen verraten. Ein Schritt, ein Blick, ein Wenden des Kopfes, das Schimmern deines Halses, wenn du atmest, selbst deine Art, vollkommen reglos dazustehen – das alles waren meine Spione. Eine Weile hast du mir Kopfzerbrechen bereitet, und auf meine Weise bin ich dir dankbar dafür. Doch deine Zeit ist abgelaufen.«
    Er sah über die Schulter aufs Meer hinaus, trat jäh an die Brüstung, mit der sorglosen Anmut eines jungen Mannes. »Die Flut setzt ein! Komm her und schau! Komm her!« Er sprach sehr sanft, doch in seiner Stimme lag plötzlich etwas vom Geschrei der hässlichen Vögel am Strand. »Komm her!«, sagte er ungestüm. »Komm her, ich werde dich nicht anfassen.« Prinz Lír sang:

    Ich werde dich lieben, solang ich nur kann,
    und sei es bis übermorgen…

    Der grässliche Kopf an seinem Sattel schien schaukelnd die Begleitung zu singen, in einer Art Bass-Falsett. Die Lady Amalthea stellte sich neben den König.
    Die Wellen liefen ein unter einem schweren, schlierigen Himmel, langsam wie Bäume wachsend, während sie sich über das Meer schoben. Sie duckten sich, wenn sie in die Nähe der Küste kamen, bogen ihre Rücken höher und höher, sprangen dann so wild an den Strand wie gefangene Tiere, die gegen eine Mauer anspringen und zu Boden fallen und mit einem klagenden Knurren wieder und wieder springen, bis ihre Krallen stumpf werden und brechen. Klagend krächzten die hässlichen Vögel. Die Wellen waren taubengrün und taubenblau, bis sie brachen, dann färbten sie sich wie das Haar, das vor Lady Amaltheas Augen wehte.
    »Da!«, sagte eine seltsam hohe Stimme neben ihr. »Da sind sie!« König Haggard grinste sie an und wies auf das weiße Wasser hinunter. »Da sind sie.« Er lachte wie ein geängstigtes Kind. »Sie sind da! Sag, sie seien nicht deine Gefährten, sag, du seiest nicht auf der Suche nach ihnen hierhergekommen, sag, aus Liebe wärest du einen ganzen Winter lang in meinem Schloss geblieben!«
    Er konnte ihre Antwort nicht abwarten, er musste den Wellen zuschauen. Sein Gesicht hatte sich unglaublich verändert: Entzücken färbte die fahle Haut, glättete die scharfen Knochen, lockerte den wie eine Sehne gespannten Mund. »Sie gehören mir«, sagte er leise, »sie gehören mir ganz allein. Der Rote Stier hat sie für mich eingefangen, eines nach dem anderen, und ich befahl ihm, jedes von ihnen ins Meer zu treiben. Was für einen besseren Ort könnte es geben, um Einhörner zu halten? Welcher andere Käfig könnte sie einschließen? Der Rote Stier bewacht sie, im Wachen wie im Schlafen, denn er hat ihnen den Mut schon vor langer Zeit genommen. Jetzt leben sie im Meer, und jede Flut bringt sie bis auf einen einzigen Schritt ans Land heran, doch sie wagen es nicht, diesen Schritt zu tun, sie wagen es nicht, aus dem Wasser zu kommen! Sie haben Angst vor dem Roten Stier!«
    In der Nähe sang Prinz Lír:

    Andre mögen dir mehr versprechen, als sie halten können,
    all ihre Habe, solange sie leben…

    Die Lady Amalthea krampfte ihre Hände um die Brüstung und sehnte ihn herbei, denn der König musste wahnsinnig sein. Unter ihnen lagen der schmale, fahle Strand, die Felsen und die einlaufende Flut, sonst nichts.
    »Ich sehe ihnen gerne zu. Sie erfüllen mich mit Freude.« Die kindische Stimme sang beinahe. »Es kann nichts anderes als Freude sein. Als ich sie zum ersten Mal spürte, meinte ich sterben zu müssen. Zwei von ihnen standen in den ersten Morgenschatten. Eines trank aus einem Bach, das andere hatte den Kopf auf seinen Rücken gelegt. Ich dachte, ich müsse sterben. Da sagte ich zum Roten Stier: ›Das muss mir gehören. Alle müssen sie mir gehören, alle, die es gibt, denn mein Verlangen ist sehr groß.‹ Und der Rote Stier hat sie gefangen, eines nach dem andern. Ihm war es gleichgültig, ich hätte genausogut Maikäfer oder Krokodile verlangen können. Er kann nur unterscheiden zwischen dem, was ich will, und dem, was ich nicht will.«
    Er vergaß ihre Anwesenheit, beugte sich über die niedrige Brüstung; sie hätte leicht den Turm verlassen können. Doch sie blieb, wo sie war, denn ein alter böser Traum erwachte ringsum, obgleich es heller Tag war. Die Flut zerschellte an den Felsen, schoss schäumend

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