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Das Letzte Einhorn und Zwei Herzen

Titel: Das Letzte Einhorn und Zwei Herzen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Peter S. Beagle
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nicht einmal im Schlaf mehr an mir zweifle. Wo könnte ich ein Lied von Leid gelernt haben? Ich bin die Lady Amalthea, und ich kenne nur die Lieder, die mich Prinz Lír gelehrt.«
    Sie hob eine Hand und berührte das Mal auf ihrer Stirn. Das Meer rollte ruhig und regelmäßig wie der Tierkreis, die hässlichen Vögel schrien. Es beunruhigte sie ein wenig, dass das Mal nicht verschwinden wollte.
    »Eure Majestät«, sagte sie, obwohl nicht das geringste Geräusch zu hören gewesen war. Sie hörte ein rasselndes Lachen in ihrem Rücken, wandte sich und sah den König. Er trug über seiner Rüstung einen grauen Mantel, doch sein Haupt war unbedeckt. Die tiefen Furchen in seinem Gesicht zeigten, wo die Krallen der Zeit seine harte Haut herabgefahren waren, doch er sah stärker aus als sein Sohn und wilder.
    »Du bist schnell für das, was du bist«, sagte er, »doch langsam für das, was du warst. Man sagt, die Liebe mache Männer flink und Frauen langsam. Ich werde dich bald einholen, wenn du noch mehr liebst!«
    Sie lächelte ihn ohne Antwort an. Sie wusste nie, was sie zu dem blassäugigen alten Mann sagen sollte, den sie so selten sah, und auch dann nur wie einen Schatten an der Küste des Eilandes, das sie und Prinz Lír bewohnten. Tief im Tal blitzte eine Rüstung auf, und sie hörte den Hufschlag eines müden Pferdes, das gegen einen Stein stößt. »Dein Sohn kehrt heim«, sagte sie. »Wir wollen ihn zusammen betrachten.«
    König Haggard trat zögernd neben sie an die Brüstung, doch verschwendete er nur einen einzigen Blick auf die winzige, blinkende Figur dort drunten. »Nein, was geht uns beide Prinz Lír an?«, fragte er. »Er ist nicht von meinem Fleisch und Blut, gehört mir weder durch Abstammung noch durch Verwandtschaft zu. Ich habe ihn dort aufgelesen, wo ihn jemand hingelegt hatte; denn ich dachte, ich sei noch nie glücklich gewesen, weil ich keinen Sohn besaß. Am Anfang war es ganz unterhaltsam, aber das verging recht bald. Alle Dinge sterben, wenn ich sie aufhebe. Ich weiß nicht, weshalb sie sterben, aber es ist immer so gewesen, mit einer Ausnahme. Es gibt etwas, das ich besitze, was niemals starr und kalt geworden ist unter meiner Hand, das Einzige, das jemals ganz allein mir gehört hat.« Sein grimmiges Gesicht verschloss sich jählings wie eine zuschnappende Falle. »Und Lír wird dir bei deiner Suche danach keine Hilfe sein. Er weiß nicht einmal, was es ist.«
    Ohne Warnung erzitterte das gesamte Schloss wie eine angerissene Saite, das schlafende Untier in seinem Bauche verlagerte sein grässliches Gewicht. Die Lady Amalthea fand mühelos ihr Gleichgewicht wieder, denn in der Zwischenzeit hatte sie sich daran gewöhnt. »Der Rote Stier?«, fragte sie leichthin. »Wie kommst du nur darauf, dass ich gekommen bin, um den Roten Stier zu stehlen? Ich habe kein Königreich zu bewachen und habe keine Eroberungsgelüste. Was sollte ich mit ihm anfangen? Wieviel frisst er denn?«
    »Verspotte mich nicht!«, erwiderte der König. »Der Rote Stier gehört mir so wenig wie der Junge, und er frisst nichts, und er kann nicht gestohlen werden. Er dient jedem, der frei ist von Furcht – und ich bin ebenso ohne Furcht, wie ich ohne Ruhe bin.« Die Lady Amalthea sah böse Vorzeichen über das lange graue Gesicht gleiten und in die Augenhöhlen und Runzeln huschen. »Verspotte mich nicht«, sagte er. »Warum spielst du mir vor, du hättest deine Suche vergessen, und lässt dich von mir daran erinnern? Ich weiß, weshalb du gekommen bist, und du weißt sehr wohl, dass ich es besitze. Nimm es dir, wenn du kannst – aber lass dir nicht einfallen, jetzt aufzugeben!« Die tiefen Furchen waren messerscharf.
    Prinz Lír sang im Reiten, doch die Lady Amalthea konnte die Worte noch nicht verstehen. Leise sagte sie zum König: »Mein Gebieter, in deinem gesamten Schloss, in deinem ganzen Reich, in all den Ländern, die der Rote Stier noch für dich erobern mag, gibt es nur ein einzig Ding, das ich begehre. Und du hast mir vor weniger als einer Minute selbst gesagt, dass du nicht darüber verfügst! Was immer du außer ihm so schätzest – ich wünsche dir von Herzen Freude daran. Guten Tag, Euer Majestät.«
    Sie wollte zur Turmtreppe gehen, doch Haggard stellte sich ihr in den Weg, und sie blieb stehen. Sie sah ihn aus Augen an, die so dunkel waren wie Hufspuren im Schnee. Der graue König lächelte, ein seltsames Gefühl der Zuneigung durchfröstelte sie einen Moment, denn sie bildete sich plötzlich ein, dass

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