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Das Letzte Einhorn und Zwei Herzen

Titel: Das Letzte Einhorn und Zwei Herzen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Peter S. Beagle
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gelingen,
    das Schloss zu zerstören, zum Einsturz zu bringen.

    Plötzlich hemmte Sand ihre Schritte, und der Geruch des Meeres – so kalt wie der andere Geruch – war so gut, so freundlich, dass sie im Laufen innehielten und lauthals lachten. Über ihnen, auf dem Kliff, ragte König Haggards Schloss in einen graugrünen Morgenhimmel, der mit milchigen Wölkchen gesprenkelt war. Molly spürte, dass König Haggard von einem der schwankenden Türme herab sie beobachtete, doch konnte sie ihn nicht sehen. In dem schwerblauen Himmel überm Wasser flimmerten noch ein paar Sterne. Es herrschte Ebbe, und der verlassene Strand schimmerte grau und feucht wie eine Muschel ohne Schale. Ganz am Ende des Strandes krümmte sich das Meer wie ein Bogen, und Molly erkannte, dass die Ebbe vorüber war.
    Im Scheitelpunkt dieses Bogens standen sich Einhorn und Stier gegenüber, das Einhorn mit dem Rücken zum Meer. Langsam bewegte sich der Rote Stier voran, ohne jedoch anzugreifen; fast zärtlich trieb er es in die Richtung des Wassers, ohne es je zu berühren. Es leistete ihm keinen Widerstand. Sein Horn war dunkel und sein Kopf gesenkt. Wie damals auf der Ebene von Hagsgate, so war der Rote Stier auch jetzt sein Gebieter. Wäre das Meer nicht gewesen, hätte es die gleiche hoffnungsleere Dämmerung sein können.
    Doch war das Einhorn noch nicht ganz und gar besiegt; es wich zurück, bis es mit einem Hinterfuß ins Wasser trat. Da schnellte es durch den tückischen Dunstkreis des Roten Stieres hindurch und rannte den Strand entlang: So leicht und geschwind lief es dahin, dass der Luftzug seines Laufes seine Spuren verwehte. Der Stier folgte ihm.
    »Tu etwas!«, sagte eine heisere Stimme zu Schmendrick, wie Molly das vor langer Zeit gesagt hatte. Prinz Lír stand hinter ihm, mit blutendem Gesicht und wahnwitzigen Augen. Er sah aus wie König Haggard. »Tu etwas!«, rief er. »Du hast die Macht dazu. Du hast sie in ein Einhorn verwandelt, jetzt rette sie! Ich werde dich töten, wenn du sie nicht rettest!« Er drohte dem Zauberer mit den Fäusten.
    »Ich kann es nicht«, erwiderte gelassen der Zauberer. »Aller Zauber dieser Welt kann ihr jetzt nicht mehr helfen. Wenn sie sich ihm nicht stellt, muss sie zu den anderen ins Meer. Weder Mord noch Magie können ihr jetzt helfen.«
    Molly hörte winzige Wellen gegen den Sand schwappen, die Flut setzte ein. So sehr sie nach ihnen Ausschau hielt und sie herbeiwünschte: Keine Einhörner tummelten sich im Wasser. ›Was, wenn es zu spät ist? Wenn sie mit der letzten Ebbe hinausgezogen worden sind, hinaus aufs weite Meer, dorthin, wohin kein Schiff sich wagt, wegen der Seeschlange und dem Kraken, und wegen der treibenden Wrack-Dschungel, die sogar diese Ungeheuer umschlingen und ertränken? Es wird sie niemals finden! Ob es dann wohl bei mir bleiben wird?‹
    »Wofür gibt es denn dann Magie?«, schrie Prinz Lír wütend. »Wozu gibt es Zauberei, wenn man damit nicht einmal ein Einhorn retten kann?« Er musste sich an des Zauberers Schultern festhalten, um nicht vor Schwäche umzufallen.
    Schmendrick drehte nicht einmal den Kopf. In seiner Stimme lag eine Spur wehmütigen Spotts, als er sagte: »Dafür gibt es Helden.«
    Der Rote Stier verdeckte das Einhorn ganz und gar. Es musste einen Haken geschlagen haben, denn es kam jetzt den Strand entlang auf sie zugeflogen. Blind und geduldig wie das Meer folgte ihm der Stier. Seine Hufe gruben tiefe Gräben in den nassen Sand. Rauch und Feuer, Gischt und Sturm, so kamen sie daher, keines gewann an Boden. Prinz Lír gab ein leises, verstehendes Grunzen von sich.
    »Ja, natürlich!«, rief er. »Genau dafür gibt es Helden! Zauberer sind ohne Bedeutung, deshalb sagen sie, alles sei ohne Bedeutung; aber Helden sind dafür da, dass sie für Einhörner sterben!« Er ließ Schmendricks Schultern los und lächelte leicht.
    »In deiner Beweisführung steckt ein grundsätzlicher Trugschluss!«, entrüstete sich Schmendrick; doch Prinz Lír sollte nie erfahren, was dieser Trugschluss war.
    Das Einhorn flog an ihnen vorüber, blauweiß floss sein Atem, den Kopf hielt es zu hoch – da sprang Prinz Lír in den Weg des Stieres. Für eine Sekunde verschwand er vollständig, wie eine Feder in einer Flamme. Der Stier rannte über ihn hinweg, ließ ihn am Boden liegen. Eine Seite seines Gesichtes schmiegte sich zu tief in den Sand und ein Bein stieß dreimal in die Luft und lag dann still.
    Er war ohne einen Schrei gestürzt, und auch Molly und Schmendrick waren so

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