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Das Letzte Einhorn und Zwei Herzen

Titel: Das Letzte Einhorn und Zwei Herzen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Peter S. Beagle
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stumm wie er, doch das Einhorn machte kehrt. Der Rote Stier verhielt, wendete, um das Einhorn wieder zwischen sich und das Meer zu drängen. Er begann sein geziertes, tänzelndes Treiben von neuem, doch genauso gut hätte er ein balzender Vogel sein können: Reglos stand das Einhorn da und starrte den verdrehten Körper des Prinzen Lír an.
    Rollend und grollend stampfte die Flut herein, der Strand war schon um einen Streifen schmaler. Schaum- und Kammwellen gischteten in die Morgenröte, doch noch immer sah Molly Grue kein anderes Einhorn als das ihre. Der Himmel über dem Schloss war scharlachrot, auf dem höchsten der Türme stand König Haggard, schwarz und klar umrissen wie ein Baum im Winter. Molly konnte die Narbe seines Mundes sehen und seine sich dunkel färbenden Fingernägel, die er in die Brüstung krallte. ›Aber das Schloss kann doch nicht fallen, nur Prinz Lír kann es zum Einsturz bringen!‹
    Jäh schrie das Einhorn auf. Ganz anders klang dieser Schrei als das herausfordernde Röhren, mit dem es dem Roten Stier beim ersten Mal entgegengetreten war – ein schriller, gellender Schrei voll Gram und Schmerz und Wut, wie ihn noch kein unsterbliches Wesen je ausgestoßen hatte. Das Schloss erbebte, und König Haggard taumelte zurück, einen Arm vors Gesicht geschlagen. Der Rote Stier zögerte, scharrte im Sand und brüllte unschlüssig.
    Wieder schrie das Einhorn auf, bäumte sich wie eine Schlange vor dem Biss. Die köstliche Kontur seines Körpers zwang Molly, ihre Augen zu schließen, doch öffnete sie sie rechtzeitig, um zu sehen, wie das Einhorn den Roten Stier ansprang und wie der Stier vor diesem Ansturm wich. Das Horn des Einhorns erstrahlte wieder, es leuchtete und vibrierte wie ein Schmetterling.
    Wieder griff das Einhorn an, und wieder wich der Stier, schwerfällig vor Bestürzung, aber noch immer flink wie ein Fisch. Seine Hörner waren wie Blitze, die geringste Bewegung seines Kopfes machte das Einhorn straucheln. Doch er wich und wich, stetig strandab, wie zuvor das Einhorn es getan. Es stürzte auf ihn zu, um ihm den Todesstoß zu versetzen, aber es konnte ihn nicht erreichen. Es war, als stoße es nach einem Schatten oder nach einer Erinnerung.
    Kampflos zog sich der Rote Stier zurück, bis ihn das Einhorn an den Rand des Wassers getrieben hatte. Dort blieb er stehen. Die Flut umspülte seine Hufe, der Sand unter ihnen gab nach. Er kämpfte nicht und er floh nicht, da erkannte das Einhorn, dass es ihn nicht töten konnte. Dennoch machte es sich für einen neuen Angriff bereit, während er verwundert knurrte.
    Für Molly Grue war die Welt in diesem gläsernen Moment erstarrt. Sie sah, als stünde sie auf einem Turm, der höher war als der Turm König Haggards, hinab auf einen fahlen Streifen Strand, wo Spielzeugmann und Spielzeugfrau mit zusammengekniffenen Augen auf einen tönernen Stier und ein winziges elfenbeinernes Einhorn starrten. Vergessene Spielsachen. Da lag noch eine Puppe, halb im Sand vergraben. Und dort stand eine Sandburg, mit einem Steckenkönig auf einem schiefen Turm. ›Im nächsten Moment wird die Flut alles verschlingen, und nichts wird bleiben als die schlappen Strandvögel, die im Kreise hüpfen.‹
    Dann packte Schmendrick sie und schüttelte sie, bis sie wieder neben ihm stand. »Molly!«, rief er. Weit draußen auf dem Meer zeigten sich Spritzwellen, lange schwere Brecher rollten heran, weißer Schaum über grünen Herzen; sie zerbarsten an den Sandbänken und schleimigen Felsen zu Gischt, raspelten mit einem Laut wie Feuer den Strand herauf. Die Vögel flogen in schreienden Klumpen auf, doch ihre kreischende Wut ging in dem Brausen der Wellen unter, als wären es Nadeln.
    Und in der Weiße, aus der Weiße, aus dem aufgewühlten Wasser erblühend, wölbten sich ihre Leiber; Leiber, die sich mit den gemaserten Marmorhöhlen der Wogen bogen. Ihre Mähnen und Schweife, die feinen Bärte der Männchen, sie leuchteten blendend hell, und ihre Augen waren so dunkel und diamanten wie die tiefe See. Und das helle Funkeln der Hörner, das perlmuttene Funkeln und Leuchten der Hörner! Wie regenbogenschimmernde Masten auf silbernen Schiffen kamen die Hörner hereingeritten.
    Doch die Einhörner trauten sich nicht an Land, solange der Stier dastand. Sie schlingerten in dem seichten Wasser, zuckten umher wie zu Tode erschrockene Fische, wenn das Netz eingeholt wird. Sie gehörten nicht mehr dem Meer an, sie waren ausgespien. Jede Woge trug Hunderte heran, schleuderte sie gegen

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