Das Letzte Einhorn und Zwei Herzen
Fingern und Zehen, quoll aus seinen Augen und Haaren und Achselhöhlen. Zu viel war es, als dass er es alles hätte halten, es jemals hätte aufbrauchen können. Und dennoch weinte er vor Schmerz, denn seine Gier war grenzenlos. Er dachte oder sagte oder sang: Wie leer muss ich gewesen sein, um so viel zu fassen!
Die Lady Amalthea lag, wo sie gefallen, doch jetzt versuchte sie aufzustehen; Prinz Lír erhob schützend seine bloßen Hände gegen den ungeheuren Schatten, der über ihm aufragte. Die Zungenspitze hing ihm aus dem Mundwinkel, und er sah so ernst aus wie ein Kind, das gerade etwas in seine Bestandteile zerlegt. Noch viele Jahre später, als Schmendricks Name schon berühmter war als der Nikos’, als Poltergeister und schlimmere Unholde flohen, wenn er nur genannt wurde, gelang es ihm nie, auch nur den kleinsten Zauber zu bewirken, ohne Lír vor sich zu sehen: die Zunge heraushängend, die blinzelnden Augen in die blendende Helle starrend.
Der Rote Stier stampfte wieder, Prinz Lír fiel aufs Gesicht und erhob sich blutend wieder. Der Stier grollte, und sein blindes, gedunsenes Haupt senkte sich, senkte sich wie eine Waagschale des Jüngsten Gerichts. Prinz Lírs tapferes Herz hing zwischen den fahlen Hörnern, tropfte schon von ihren Spitzen, und er selbst war schon so gut wie zertreten und zerstampft. Sein Mund zuckte ein wenig, aber er wich keinen Zoll. Die Hörner des Stieres senkten sich.
Da trat Schmendrick hervor und sprach einige Worte. Es waren kurze, einfache Worte, die sich weder durch Klang noch durch Betonung auszeichneten. Schmendrick selbst konnte sie wegen des dumpfen Stiergedröhns nicht hören, aber er kannte ihre Bedeutung und meisterte ihre Aussprache und wusste, dass er sie auch in Zukunft würde sprechen können, wann er wollte, genau so oder auf eine andere Art. Jetzt sprach er sie sanft und voller Freude, und während er es tat, fühlte er seine Unsterblichkeit von sich fallen wie einen Panzer oder ein Leichentuch.
Bei den ersten Worten des Zauberspruches tat die Lady Amalthea einen kläglichen, schmerzvollen Schrei. Sie streckte erneut ihre Hand nach Prinz Lír aus, doch dieser kehrte ihr den Rücken zu, da er sie beschützte, und er hörte sie nicht. Molly Grue packte, voll Herzeleid, den Zauberer beim Arm, doch der sprach unaufhaltsam weiter. Als schon das Wunder erblühte, dort, wo die Lady Amalthea gewesen war, meerschaumweißes, grenzenlos schönes Wunder, so schön wie der Stier mächtig, da klammerte sich die Lady Amalthea noch immer an ihre seitherige Gestalt, noch für einen einzigen Augenblick. Es gab sie nicht mehr, doch ihr Gesicht schwebte noch wie ein Hauch in dem kalten, dunstigen Licht.
Prinz Lír hätte sich besser nicht umgedreht, doch er wandte sich um und sah das Einhorn. Es schimmerte in ihm wie in einem Spiegel, er aber rief der anderen zu, der Verstoßenen, der Lady Amalthea. Seine Stimme bedeutete ihr Ende: Als er ihren Namen rief, verschwand sie, als hätte er den Tag herbeigekräht.
Alles geschah rasend schnell und langsam zugleich, wie es in Träumen geschieht, in denen beides dasselbe ist. Das Einhorn stand reglos, sah sie aus verlorenen Augen an, die schon weit von ihnen entfernt waren. Es war noch schöner, als Schmendrick es in Erinnerung hatte, denn niemand kann ein Einhorn lang im Gedächtnis behalten. Doch war es anders, als es gewesen war, so wie auch er sich verändert hatte. Molly Grue ging auf das Einhorn zu, sprach sanfte, törichte Worte, doch das Einhorn gab kein Zeichen des Erkennens. Das wunderkräftige Horn blieb trüb wie Regen.
Mit einem Brüllen, das die Höhlenwände bauchte und platzen ließ wie Zirkusleinwand, griff der Stier zum zweiten Mal an. Das Einhorn floh quer durch die Grotte und in die Finsternis hinaus. Prinz Lír hatte sich beim Umdrehen einen Schritt zur Seite bewegt, und bevor er wieder herumfahren konnte, schmetterte ihn des Stieres jähe Jagd zu Boden. Betäubt und mit offenem Munde lag er da.
Molly wollte ihm zu Hilfe eilen, doch Schmendrick hielt sie fest, zerrte sie hinter Stier und Einhorn her. Keines der Tiere war zu sehen, doch der Tunnel dröhnte von ihrer wilden Jagd. Betäubt und benommen stolperte Molly neben dem hitzigen Fremden her, der es weder zuließ, dass sie fiel, noch duldete, dass sie langsamer ging. Über und rings um sich fühlte sie das Schloss ächzen, im Felsen knirschen wie ein sich lockernder Zahn. Der Hexenvers schrillte laut in ihrem Gedächtnis:
Nur Einem aus Hagsgate wird es
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