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Das Letzte Einhorn und Zwei Herzen

Titel: Das Letzte Einhorn und Zwei Herzen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Peter S. Beagle
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gewaltige, grollende, sprühende Atemstöße schnob. Ihre Gegenwart schien ihn zu verwirren und ratlos zu machen. Er brüllte nicht. Die Lady Amalthea stand in seinem frostigen Licht; sie hatte ihren Kopf weit zurückgeworfen, um seine ganze Größe ermessen zu können. Ohne den Kopf zu wenden, streckte sie eine Hand nach Prinz Lír aus.
    Gut, gut. Ich kann nichts, gar nichts tun, und ich bin froh darüber. Der Stier wird sie vorüberlassen, und sie wird mit Prinz Lír davonziehen. Es ist nur recht und billig. Es tut mir nur um die Einhörner leid. Der Prinz hatte die ausgestreckte Hand noch nicht bemerkt, doch im nächsten Augenblick musste er sie sehen und die Lady Amalthea zum ersten Mal berühren. Er wird nie wissen, was sie ihm gegeben hat, doch sie wird es genauso wenig wissen. Der Rote Stier senkte den Kopf und griff an.
    Er kam ohne Warnung und ohne Laut, nur das Knirschen seiner Hufe war zu hören. Hätte er gewollt, wären sie von seinem stummen Ansturm alle vier zerschmettert worden. Er duldete es jedoch, dass sie auseinanderliefen und sich gegen die runzligen Wände pressten. Er stampfte vorüber, ohne sie zu verletzen, obwohl es ihm ein Leichtes gewesen wäre, sie aus ihren armseligen Verstecken mit seinen Hörnern herauszuspießen wie Meeresschnecken. Geschmeidig wie Feuer wendete er, wo es keinen Raum zum Wenden gab, griff wieder an; sein Maul streifte fast den Boden, sein Nacken schwoll wie eine Woge. Dann brüllte er.
    Sie flohen, und er folgte ihnen, nicht so schnell wie bei seinem Angriff, aber schnell genug, um sie voneinander getrennt zu halten, allein und freundlos in der Finsternis. Die Erde schien sich unter ihren Füßen zu öffnen, und sie schrien auf, aber sie konnten sich nicht einmal selbst hören. Jedes Brüllen des Roten Stieres ließ Erd- und Steinmassen auf sie herniederprasseln. Immer noch taumelten sie weiter, wie geknickte Insekten, und immer noch verfolgte er sie. Durch sein zorniges Geschmetter hindurch hörten sie einen anderen Laut: das tiefe Klagen des Schlosses, das in seinen Grundfesten ächzte, das vor der Wut des Stieres knatterte wie eine Fahne im Wind. Und ganz schwach wehte der Geruch des Meeres den Gang herauf.
    Er weiß es! Er weiß es! Ich habe ihn einmal damit hereingelegt, aber nicht ein zweites Mal. Einhorn oder Mädchen, er wird es diesmal ins Meer jagen, wie ihm befohlen ward. Und meine Magie wird ihn nicht davon abhalten. Haggard hat gesiegt.
    Das waren die Gedanken des Zauberers, während er rannte, zum ersten Mal in seinem langen, seltsamen Leben ohne jede Hoffnung. Plötzlich verbreiterte sich der Weg, und sie gelangten in eine Grotte, die nur des Stieres Lagerstätte sein konnte. Sein Gestank erfüllte sie, so überwältigend und scharf, dass ihm eine widerliche Süße anhaftete. Schlundrot erglühte die Höhle, als hätte sein Licht auf die Wände abgefärbt und sich in den Rissen und Ritzen verkrustet. Jenseits der Grotte lag wieder der Gang und der schwache Glanz schäumenden Wassers.
    Die Lady Amalthea fiel, so unwiderruflich, wie eine Blume bricht. Schmendrick sprang zur Seite, zog Molly mit sich. Sie prallten schwer gegen einen spitzen Felsbrocken, kauerten nieder, dicht aneinandergepresst, als der Stier an ihnen vorüberdonnerte. Zwischen zwei Schritten kam er zum Stehen, und die jähe Stille, nur von dem Schnauben des Stieres und dem fernen Rauschen des Meeres durchbrochen, wäre absurd gewesen, wenn es nicht diesen Grund gehabt hätte.
    Sie lag auf der Seite, ein Bein unter sich; dann bewegte sie sich langsam und ohne einen Laut. Prinz Lír stand zwischen ihr und dem Stier, die leeren Hände schützend erhoben, als hielten sie immer noch Schild und Schwert. Zum wievielten Male in dieser endlosen Nacht sagte er: »Nein!«?
    Er sah sehr lächerlich aus, und im nächsten Augenblick musste er zermalmt werden – da der Rote Stier ihn nicht sehen konnte, würde er über ihn hinwegrennen, ohne auch nur zu ahnen, dass er sich ihm in den Weg gestellt hatte. Da ergriffen Wunder und Liebe und großes Leid Schmendrick den Zauberer, schüttelten ihn, flossen in ihm zusammen und füllten ihn, erfüllten ihn, bis er sich in etwas fluten und vibrieren fühlte, das keines von diesen Dingen war. Er konnte es nicht glauben, aber es kam dennoch zu ihm – wie es schon zwei Mal ihn berührt und leerer zurückgelassen hatte, als er zuvor gewesen war. Dieses Mal war es zu viel, als dass er es hätte alles halten können: Es strömte durch seine Haut, sprang von seinen

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