Das letzte Einhorn
schwerer Füße hörte, das Dröhnen bronzener Schwingen und Rukhs jäh verstummenden Schrei, »Er ist davongerannt«, sagte das Einhorn. »Vor unsterblichen Wesen darf man niemals davonrennen. Es erregt ihre Aufmerksamkeit.« Seine Stimme war sanft und mitleidlos. »Renne nie, geh langsam und tu so, als dächtest du an etwas anderes; sing ein Lied, sag ein Gedicht auf, mach deine Kunststücke, aber geh langsam, und sie werden dir nicht folgen. Geh ganz langsam, Zauberer!«
Auf diese Weise flohen sie zusammen durch die Nacht, Schritt für Schritt, der große Mann in Schwarz und das gehörnte weiße Tier. Schmendrick hielt sich, so dicht er nur wagte, bei des Einhorns Licht, denn dort, wohin dieses nicht reichte, bewegten sich hungrige Schatten, die Schatten der Geräusche, welche die Harpyie machte, als sie das wenige zerstörte, was an der Mitternachtsmenagerie zu zerstören war. Lange nachdem dieser Laut verklungen war, folgte ihnen auf ihrer unbekannten Straße bis in den Morgen hinein ein anderer Laut: das winzige, trockene Weinen einer Spinne.
Der Zauberer weinte lange wie ein neugeborenes Kind, ehe er wieder sprechen konnte. »Die arme alte Frau«, flüsterte er dann. Das Einhorn schwieg, worauf Schmendrick ihm einen seltsamen Blick zuwarf. Ein grauer Morgenregen rieselte herab, und das Einhorn leuchtete in ihm wie ein Delphin. »Nein«, sagte es, seinem Blick antwortend, »ich bemitleide nie.«
Der Zauberer sagte nichts; er kauerte am Wegesrand und zog seinen klatschnassen Mantel enger um sich, bis er wie ein ausgedienter schwarzer Regenschirm aussah. Das Einhorn wartete, fühlte seine Lebenstage zusammen mit dem Regen fallen. »Ich kann trauern«, lenkte es ein, »aber das ist nicht dasselbe.«
Als Schmendrick wieder aufsah, war es ihm gelungen, sein Gesicht unter Kontrolle zu bringen, obgleich es immer noch heftig widerstrebte. »Wohin wirst du jetzt gehen?« fragte er. »Wohin wolltest du gehen, als sie dich gefangen nahm?«
»Ich suchte meine Gefährten«, erwiderte das Einhorn. »Hast du sie gesehen, Zauberer? Sie sind unzähmbar und schneeweiß, wie ich.«
Schmendrick schüttelte gewichtig den Kopf. »Jemanden wie dich hab’ ich noch nie gesehen; nicht, solange ich wach war. Als ich ein Kind war, soll es noch ein paar Einhörner gegeben haben, aber ich habe nur einen einzigen Menschen gekannt, der eines sah. Sie sind bestimmt alle gegangen, Lady, alle außer dir. Dort, wo sie lebten, hallt heute hohl dein Schritt.«
»Nein«, sagte es, »einige hat man doch gesehen.« Es freute sich, dass es noch vor kurzem, in des Zauberers Kindheit, Einhörner gegeben hatte. »Ein Schmetterling erzählte mir vom Roten Stier, und die Hexe erwähnte den König Haggard. Zu denen will ich gehen und herausbringen, was sie wissen. Weißt du, wo König Haggard regiert?«
Beinahe wäre des Zauberers Gesichtsausdruck entwischt, doch dann gelang ihm ein mühsames Lächeln, so, als wäre sein Mund aus Eisen. »Ich kann dir ein Gedicht aufsagen«, meinte er nach einer Weile.
Wo scharf wie Messer sind die Hügel,
wo weder Halm sich regt noch Flügel,
erbt ein böser Fluch sich fort:
Haggard ist der Herrscher dort!
»Daran werde ich sein Land gewiss erkennen«, sagte das Einhorn, denn es fühlte sich verspottet. »Weißt du auch ein Gedicht über den Roten Stier?«
»Über den gibt es keins«, antwortete Schmendrick. Bleich und lächelnd stand er auf. »König Haggard kenne ich nur vom Hörensagen. Er soll ein alter Geizhals sein, der über ein ödes Land am Meer herrscht. Manche sagen, vor seiner Ankunft sei das Land weich und grün gewesen, durch seine Berührung aber verdorrt. Die Bauern haben einen Spruch, wenn sie ein vom Feuer verwüstetes, von Heuschrecken oder Sturm heimgesuchtes Feld sehen: ›Verheert wie Haggards Herz‹. Will man ihnen glauben, dann gibt es in seinem Schloss weder Licht noch Feuer, und er schickt seine Knechte aus, damit sie Hühner, Leintücher und Pasteten von Fenstersimsen stehlen. Es wird auch erzählt, dass König Haggard zum letzten Mal gelacht …« Das Einhorn stampfte auf. Schmendrick beeilte sich zu sagen: »Was den Roten Stier angeht, so weiß ich über ihn weniger als nichts, weil ich zu viele Geschichten gehört habe, die sich alle widersprechen. Der Stier ist Wirklichkeit, heißt es, der Stier ist ein Gespenst, Haggard verwandelt sich in den Stier, sobald die Sonne untergegangen ist; der Stier war vor Haggard im Lande, er kam zusammen mit ihm, er kam nach ihm.
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