Das letzte Einhorn
Gefährten verschwunden sind. Und selbst wenn es so wäre, würde ich nicht gehen. Ich lebe hier.‹
Doch dann erwachte es inmitten einer warmen Nacht und sagte: »Jetzt aber los!« Es lief durch seinen Wald und gab sich große Mühe, nichts anzusehen und nichts zu riechen, versuchte, die Erde unter den gespaltenen Hufen nicht zu spüren. Die nächtlichen Tiere, Eulen, Füchse und Rehe, hoben die Köpfe, als es vorüberkam, doch das Einhorn schenkte ihnen keinen Blick. ›Ich muss mich beeilen, damit ich bald wieder zurück bin. Vielleicht ist es nicht sehr weit. Aber ob ich die anderen finde oder nicht: Ich werde schnell zurückkommen, so schnell ich nur kann.‹ Die Straße, die am Wald vorüberführte, glänzte im Mondlicht wie Wasser, doch als es sie betrat, spürte es, wie hart sie war und wie lang. Fast wäre es umgekehrt, dann aber sog es die Waldluft tief ein und behielt sie im Mund wie eine Blume, so lang es nur ging.
Die Straße führte nirgendwohin und hatte kein Ende; sie lief durch Dörfer und kleine Städte, über Berg und Tal, durch steiniges Brachland und Wiesen, die sich hinter Felsen ausbreiteten. Die Straße aber gehörte nirgendwohin und rastete nie; sie zog das Einhorn mit sich, zupfte und zerrte an seinen Füßen wie die einsetzende Flut, ließ ihm weder Zeit noch Ruhe, wie gewohnt dem Winde zu lauschen. Seine Augen waren jetzt voller Staub, und seine schmutzige Mähne war steif und schwer. In seinem Wald war die Zelt an ihm vorübergegangen, ohne es zu berühren, aber jetzt musste es durch die Zeit hindurchgehen. Die Farben der Bäume wechselten, und den Tieren wuchsen dicke Pelze und dann wieder dünnere. Die Wolken krochen oder jagten dahin vor den wechselnden Winden, waren rosa und golden in der Sonne, oder bleifarben vor dem Sturm. Überall suchte das Einhorn nach seinen Gefährten, aber nirgends fand es auch nur eine Spur von ihnen, und in all den Sprachen, die es unterwegs hörte, gab es nicht einmal ein Wort für sie.
Eines Morgens, als es sich gerade zur Ruhe legen wollte, sah es einen Mann, der in seinem Garten Unkraut jätete. Anstatt sich zu verbergen, blieb das Einhorn stehen und schaute ihm bei der Arbeit zu, bis er sich aufrichtete und es erblickte. Er war fett, und seine Wangen hüpften bei jedem Schritt. »Oh!« rief er, »oh, bist du schön!« Als er hastig seinen Gürtel abnahm, eine Schlinge hineinmachte und schwerfällig herankam, da machte das dem Einhorn mehr Spaß als Angst. Der Mann wusste, was er da vor sich hatte, und er wusste auch, was er selbst war: jemand, der Rüben hackte – und hinter etwas herjagte, das glänzte und schneller laufen konnte als er. Das Einhorn entzog sich seinem ersten Angriff so federleicht, als hätte der Luftzug es davongeweht. »Man hat mich schon mit Gerten und Geißeln gejagt«, sagte es zu ihm. »Und die Jäger wussten, dass sie mich nur dann fangen würden, wenn sie die Jagd so erregend und wunderlich führten, dass ich aus Neugier in ihre Nähe käme. Und selbst so bin ich kein einziges Mal gefangen worden.«
»Ich muss ausgerutscht sein«, sagte der Mann. »Ruhig, ganz ruhig, hübsches Ding.«
»Ich habe nie verstanden«, grübelte das Einhorn, während der Mann sich mühsam aufraffte, »was ihr mit mir tun wollt, wenn ihr mich gefangen habt.« Der Mann sprang wieder vor, und es entglitt ihm wie Wasser zwischen den Händen. »Ich glaube, ihr wisst es selber nicht.«
»Brrrh, bleib doch stehen!« Der Mann hatte ein schwitzendes, verschmiertes Gesicht und war außer Atem. »Hübsche«, keuchte er, »hübsche kleine Stute!«
»Stute?« Das Einhorn stieß das Wort so schrill hervor, dass der Mann seine Verfolgung aufgab und sich die Ohren zuhielt. »Stute!« rief das Einhorn. »Ein Pferd soll ich sein? Seh’ ich so aus? Glaubst du wirklich?«
»Gutes Pferd«, schnaufte der dicke Mann. Er lehnte sich an den Zaun und wischte sich das Gesicht ab. »Ich werde dich striegeln und rausputzen, wirst weit und breit das schönste Pferdchen sein.« Er holte wieder mit dem Gürtel, aus. »Und dann verkauf’ ich dich. Komm nur her, Pferd.«
»Ein Pferd wolltest du also fangen, ein Pferd!« sagte das Einhorn. »Eine weiße Stute mit einer Mähne voller Kletten!« Als der Mann heranschlich, stieß es sein Horn durch den Gürtel, riss ihn aus seinen Händen und schleuderte ihn über die Straße hinweg in ein Büschel Gänseblümchen. »Ein Pferd bin ich?« schnaubte es. »Ein Pferd!«
Einen Augenblick lang war der Mann dem Einhorn sehr
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