Das letzte Evangelium: Historischer Roman (German Edition)
Adriana und meinem kleinen Sohn in meinem Palast in Granada war seine blutige Rache«, presst er mit heiserer Stimme hervor. Jibril ringt mit den Tränen eines Vaters, der seinen kleinen Sohn blutüberströmt in den Armen hielt. »Antar war erst sechs Jahre alt!«
Ich erinnere mich an den niedlichen Jungen, der mit Elija durch die Gärten der Alhambra tobte. Unsere beiden Söhne spielten zusammen, ließen ihre selbst gebauten Segelboote auf den Wasserbecken fahren und hauten in den Rosenbeeten mit wildem Geschrei ihre Holzschwerter gegeneinander. Muhammad beobachtete die beiden oft vom Fenster seines Arbeitszimmers aus und lächelte dabei wehmütig. Der Sultan hatte drei Töchter, die er innig liebte und denen er jeden Wunsch von den Augen ablas, aber er hatte keinen Sohn. Antar und Elija wussten genau, wie sie Muhammad um den Finger wickeln konnten, um zu bekommen, was sie wollten, und das nutzten die beiden Lausebengel schamlos aus.
Ich schüttele traurig den Kopf. »Yared trägt keine Schuld an dem Tod deiner Liebsten. Dein Onkel hat den Befehl gegeben, dich hinzurichten, weil du versucht hast, ihn zu stürzen. Sein Wesir hat stundenlang auf den Sultan eingeredet, um dich vor dem Tod zu bewahren. Yared und Muhammad haben erbittert gestritten. Und während sie sich noch anbrüllten, drangen die Hashishin in deinen Palast ein, um dich in die Alhambra zu bringen, wo du hingerichtet werden solltest. Im Myrtenhof.«
»Yared hat versucht, mir das Leben zu retten?«, fragt er ungläubig.
»Und wie hast du es ihm gedankt? Du hast ihn zum Tode verurteilt«, entgegne ich verbittert. »Du hast fünf Hashishin geschickt, die Yared im Löwenhof ermordet haben. Und Elija.« Ich kann die Tränen nicht mehr zurückhalten. »Selbst wenn du geglaubt hättest, Yared hätte deinen Tod befohlen, aus welchen Gründen auch immer: aus Zorn über deinen Verrat am Sultan, aus Eifersucht, aus Angst … Wie konntest du Elija töten? Er war erst zehn Jahre alt.«
Wie ich Elijas kleinen Körper in meinen Armen gehalten habe, während er »Mami … Mami!« schluchzend starb – das hat eine Wunde in meinem Herzen hinterlassen, die niemals heilen wird. Neben mir lag Yared in seinem Blut, der Dolch des Hashishin ragte noch aus seiner Brust. Mit einem erstickten Röcheln hauchte er sein Leben aus, während ich seine Hand hielt. »… liebe … dich … Leb wohl!«
Sultan Muhammad, fassungslos über Jibrils Rache und Yareds Tod, nahm mich in die Arme, um mich zu trösten und mir die Tränen und die Blutspritzer meines Mannes und meines Sohnes aus dem Gesicht zu wischen.
Seit jenem Tag, seit meiner Rückkehr nach Rom, quälen mich zwei Träume. Daran erinnere ich mich wieder. Eine lichtdurchflutete Vision von inniger Liebe, von Zufriedenheit und Glück an Yareds Seite. Und ein düsterer Albtraum von Gewalt und Tod. Beide Träume, in denen Jibril vorkommt, sind auf gleiche Weise schmerzhaft. Denn beide lassen mich mitten in der Nacht zitternd und allein zurück. Mit einem erfrorenen Herzen. Und Tränen in den Augen.
Dass Jibril dasselbe erlitten hat wie ich, denselben Schmerz, denselben Kummer, denselben Zorn, kann mich nicht besänftigen oder trösten.
»Es tut mir so leid«, murmelt Jibril. »Wie musst du mich hassen.«
»Ich hasse dich nicht, Jibril«, quäle ich hervor.
Er hebt die Augenbrauen. »Was empfindest du noch für mich?«
Ja, was?
»Wie nennst du das Gefühl, wenn Liebe zu Hass wird? Wenn Respekt und Anerkennung zu Verachtung werden? Wenn Ruhe zu Unruhe wird, und Geborgenheit zu Angst? Wenn Glück zu Unglück und Leid wird, und Lebensfreude zu Trauer und verzweifelter Einsamkeit? Und wenn du selbst zu jemand anderem wirst, und der, den du geliebt hast, zu einem Fremden? Wie nennst du dieses schmerzhafte Ziehen im Herzen?«
Er birgt sein Gesicht in den Händen und schnauft.
»Wie nennst du es, wenn dir bei lebendigem Leib das Herz herausgerissen wird? Wenn du nicht mehr atmen kannst? Nicht mehr hoffen, nicht mehr sehnen, nicht mehr lieben? Wenn du kein Gefühl mehr in dir spüren kannst außer der Trauer und dem Schmerz? Wenn du nachts aufwachst, und das Bett neben dir ist leer? Wie nennst du es, wenn du dich mit jeder Faser deines Körpers nach dem Liebsten sehnst? Nach seinem Lächeln, nach dem Funkeln in seinen Augen, nach seiner Lebensfreude, nach seinem schallenden Gelächter, das man überall in der Alhambra hören konnte, nach seiner zärtlichen Liebe, nach seiner ungestümen Leidenschaft, nach seiner Ungeduld, wenn
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