Das letzte Evangelium: Historischer Roman (German Edition)
ist das geschehen?«
Ich zögere einen Augenblick. »Das war ich selbst.«
Es ist nur ein Teil der Wahrheit. Der andere würde zu viele Fragen aufwerfen, die ich nicht beantworten kann. Noch nicht.
Nach einem langen Blick zieht er das Notizbuch zu sich heran, schlägt es auf und zeigt mir zwei leere Seiten in der Mitte, zwischen den Notizen, die ich am Anfang niedergeschrieben habe, und den Eintragungen, die ich vorhin am Ende des auf den Kopf gestellten Buches gemacht habe. Die beiden nähern sich von vorn und von hinten einander an. Was wird geschehen, wenn die Gegenwart in der Mitte des Büchleins auf die Vergangenheit trifft? Wenn ich mich endlich erinnern kann? Wenn ich begreife, was um mich herum vorgeht? Wenn ich weiß, was meine düsteren Vorahnungen bedeuten?
Ich betrachte die leeren Seiten und nicke.
Ja, so fühle ich mich, denke ich traurig. Wie eine unbeschriebene Seite, irgendwo zwischen der Vergangenheit, die sich mir entzieht, und der Gegenwart, die ebenso wenig greifbar ist. Weil ich verrückt bin. Oder auch nicht. Weil die Geschichte, in der ich feststecke, verrückt ist. Oder auch nicht. Meine Lebensgeschichte, die gestern erst begann, besteht aus wenigen hastig hingekritzelten Eintragungen in meinem Notizbuch. Sie handelt von Dingen, die gestern und heute geschehen sind. Oder auch nicht. Sie handelt von einer Frau, die allmählich den Verstand verliert. Kein ›oder auch nicht‹.
»Ich habe gelesen, was du vor einigen Stunden geschrieben hast. Erzähl mir, was dort nicht steht.«
Die längste kürzeste Lebensgeschichte aller Zeiten – aber bleibt mir noch so viel Zeit, um sie zu erzählen?
Wieder irrt mein Blick zum Fenster. Wie spät ist es? Wie lange war ich ohnmächtig? Wie viele Stunden sind vergangen, seit der andere fort ist? Und wenn er mit den beiden anderen, die vor ihm verschwunden sind, zurückkommt, um es zu suchen? Bisher haben sie es nicht gefunden. Aber sie wissen, dass ich es in mir trage. Nur dass ich mich nicht daran erinnern kann …
Ich bin in großer Gefahr. Und ich bin gefangen in diesem Kerker des Geistes, aus dem es kein Entkommen gibt.
Ich mustere den Mann, der mir gegenübersitzt. Seine mit Ringen geschmückten Finger hält er flach auf dem Tisch, damit ich sie sehen kann. Erst jetzt fällt mir der Siegelring auf. Das Wappen kann ich nicht erkennen.
Langsam atme ich aus. Kann er mir helfen, das Rätsel zu lösen, von dem mein Leben abhängt? Kann ich ihm vertrauen? Oder gehört er zu den anderen, die mein Leben bedrohen, die mich verwirren und verängstigen? Soll er mich dazu bringen, dass ich mich erinnere? Und das tödliche Wissen preisgebe, das ich in mir trage?
Nur diese Erinnerung hält mich noch am Leben. Auch wenn ich sie vergessen habe. Widersinnig? O ja, und wie!
Wenn ich mich ihm anvertraue, wenn ich ihm das Geheimnis offenbare, vertraue ich ihm mein Leben an, und davor fürchte ich mich. Die Vorstellung, mein Schicksal in die Hände eines anderen zu legen, den ich nicht kenne, den ich nicht einschätzen kann, dem ich nicht vertrauen kann, ist mir unerträglich. Aber habe ich denn eine Wahl?
Ja, die habe ich: Ich kann ihn töten.
Ich glaube, er spürt, wie aufgewühlt ich seit seinem plötzlichen Auftauchen in der Abteikirche immer noch bin. Denn er bedrängt mich nicht, sondern wartet geduldig ab, bis ich bereit bin, zu erzählen. Meine Hände, die neben dem Dolch auf dem Tisch liegen, lässt er nicht aus den Augen. Er hat doch gesehen, was ich mit dem Menschen in der Kirche gemacht habe, dessen Blut an meinen Händen klebt. Er weiß, dass ich ihn töten kann.
Ich atme tief durch, um mich zu beruhigen. »Ich traue meinen Erinnerungen nicht mehr.«
»Was meinst du damit?«, fragt er behutsam.
»Ich traue mir selbst nicht mehr.«
Er nickt versonnen. Er hat meine Notizen gelesen. Aber offensichtlich nicht verstanden.
»Ich muss von Anfang an erzählen, sonst begreifst du nicht, was in den letzten Tagen in dieser Abtei geschehen ist.«
Er lehnt sich zurück, faltet die Hände vor der Brust und blickt mich auffordernd an. »Ich bin gespannt.«
»Meine Geschichte beginnt mit ihrem Ende«, warne ich ihn. »Mit meinem Tod.«
Wie entsetzt er mich ansieht! Hielt er mich denn nicht auch für tot und begraben?
»Wie es ist zu sterben? Ich sage es dir. Sterben ist wie Schlafen. Wie Vergessen. Es gibt keine Worte, um dieses herrliche Empfinden zu beschreiben. Aber um das Gefühl wiederzugeben, das dich durchzuckt wie ein Schmerz, wenn jemand dich
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