Das letzte Evangelium: Historischer Roman (German Edition)
die Faust und stoße sie ihm mit aller Gewalt ins Gesicht.
Er taumelt und fällt in den Schnee.
Die Ritter greifen zu ihren Schwertern, doch der Papst hebt beschwichtigend die Hand. »Lasst sie! Sie ist nicht sie selbst!«
Ich verschränke die Arme hinter dem Rücken, sodass der Johanniterdolch in meinem Gürtel gut sichtbar ist.
Benommen rappelt der falsche Papst sich auf und klopft sich den Schnee vom Ornat. Die linke Seite seines Gesichts ist rot angelaufen, und aus einem Riss rinnt Blut. Mit dem Handrücken wischt er es ab. »Dann habt Ihr mich also erkannt«, nuschelt er mit schmerzhaft verzogenen Lippen. Er legt mir vertraulich den Arm um die Schulter und schiebt mich zum Portal des Châtelets. Die Ritter seiner Eskorte folgen uns mit der Hand am Schwertgriff. »Kardinal Colonna hat mir vor wenigen Stunden gesagt, Ihr hättet Euer Gedächtnis verloren.«
»Das stimmt.«
»Aber Ihr wisst offenbar, wer ich bin.«
Nein, das weiß ich nicht. Trotzdem nicke ich.
»Dann kehrt Eure Erinnerung also zurück?«
»Ich habe Prospero erkannt«, lüge ich.
Er nickt versonnen. »Ja, in der Tat.«
Du hast niemals mit Prospero gesprochen!
»Wie geht es ihm?«, setze ich nach.
»Kardinal Colonna ist auf dem Weg nach Aquila«, antwortet er ausweichend.
»Ist er schwer verletzt?«
Er zögert einen Herzschlag lang. Zu lang. Mir wird angst und bange um Prospero.
»Ich habe Vittorio da Gennazzano gefunden«, sage ich unvermittelt. »Er ist tot.«
»Nein, Seine Eminenz ist wohlauf«, versichert er mir hastig.
Sieh mal einer an! Keine Nachfrage, wer eigentlich Vittorio war? Oder wer ihn getötet hat? Oder wieso? Na, wie du willst!
Ich gebe mich erleichtert, obwohl ich viel zu angespannt bin, um irgendwelche Gefühle zu empfinden.
Zwei Fackelträger aus dem päpstlichen Gefolge gehen vor uns die Treppen des Châtelets hinauf, um uns zu leuchten. Dass sie die Fackeln in der linken Hand tragen, um die rechte für einen Angriff auf mich frei zu haben, entgeht mir nicht.
Während ich den Papst hinauf zur Kirche geleite, greife ich im Vorübergehen nach der Kerze auf den Stufen. Ich lösche sie und verstaue sie in meiner Zunderdose. Ich brauche sie ganz sicher noch.
Unterdessen parliert Seine Scheinheiligkeit ganz munter von dem Tag, an dem er erfuhr, dass ich in Byzanz gefallen wäre. »Die Nachricht vom Fall von Konstantinopolis erreichte Venedig am 29. Juni. Am nächsten Morgen sandte mir der Doge eine Nachricht, die am 8. Juli bei mir eintraf. Ich war entsetzt. Ich hatte nicht damit gerechnet, dass es dem Sultan gelingen würde, Byzanz zu erobern.«
Während wir die steile Treppe hinaufgehen, bemerke ich im Fackelschein zum ersten Mal das Wappen in der Felsnische oberhalb der Treppe. Neben einem verblichenen Fresko des heiligen Benedikt prangt mein Wappen. Nicht das Hoheitszeichen der Colonna. Nein: der Löwe, der das Evangelium beschützt.
»Habt Ihr deshalb keine Flotte zu unserer Rettung geschickt?«, frage ich verbittert. Ich weiß, er kann nichts dafür, denn er ist ja nicht Tommaso Parentucelli, aber ich kann nicht anders. Der Schmerz sitzt einfach zu tief.
»Ich habe eine Flotte venezianischer Galeeren entsandt!«, verteidigt er sich und gibt sich beleidigt. »Die Schiffe lagen vor der Insel Chios vor Anker, um auf günstigen Wind zu warten, als die aus Byzanz flüchtenden genuesischen Schiffe unter dem Kommando von Giovanni Giustiniani und Alvise Diedo heransegelten und dem Admiral mitteilten, Byzanz sei schon vor Tagen gefallen.«
Wir verlassen das Treppenhaus des Châtelets und treten hinaus ins Schneetreiben. Die steile Treppe unterhalb der bogenförmigen Strebepfeiler, die hinaufführt zur Kirche, ist knietief verschneit. Einige Ritter drängen sich an uns vorbei und räumen mit ihren Stiefeln die Stufen frei.
»Ich war auf Chios«, gestehe ich und versuche, mein im Wind herumwirbelndes nasses Haar zu bändigen.
Er sieht mich von der Seite an. Er wirkt verunsichert. »Am 30. September habe ich eine Bulle erlassen, die die Könige und Fürsten zu einem Kreuzzug …«
»Und ich bin so nahe an Rhodos vorbeigesegelt, dass Seine Exzellenz der Großmeister das Segel meines Schiffes schon am Horizont sehen konnte«, falle ich ihm ins Wort. »Wieso habt ihr Johanniter eigentlich eure Schiffe vor der türkischen und ägyptischen Küste nicht nach Byzanz geschickt, um uns zu retten?«
So, jetzt ist es heraus!
Zuerst ist er sprachlos. Doch dann besinnt er sich. »Kardinal Colonna hatte recht. Die Strapazen
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