Das letzte Evangelium: Historischer Roman (German Edition)
zu öffnen ist.
Während über meinem Kopf Reitstiefel über die knarzenden Bodendielen trampeln, Schwerter gezogen und Befehle gebrüllt werden, verkeile ich die Ikone auf der Werkbank und setze das Stecheisen an, um den verleimten Spalt aufzustemmen. Ein Schlag, und das Holz knistert und kracht. Noch einer, und die Ikone zerbirst in zwei Teile.
Wie den Deckel eines kostbaren Reliquiars hebe ich das Bild Jesu Christi an. In der Vertiefung darunter, die so groß ist wie zwei Handflächen, liegt ein gefaltetes Linnen.
Das Mandylion.
Mit allen Anzeichen meines Schatzsucherfiebers nehme ich es heraus und falte das brüchige und an einigen Stellen zerschlissene Linnen auseinander.
Kapitel 110
In der Werkstatt
23. Dezember 1453
Gegen ein Uhr nachts
Mit der offenen Hand schiebe ich ein wenig Schnee vom Fenstersims in einen leeren Farbtiegel und schmelze und erhitze ihn über der Flamme der Kerze. Über dieses Wasserbad stelle ich die Schale mit Knochenleim und rühre ihn mit dem Spachtel so lange um, bis er geschmeidig wird. Dann streiche ich den Leim auf die gespaltene Holztafel, lege die beiden Teile der Ikone passgenau aufeinander und beschwere sie mit dem Holzklopfer.
Während der Leim in der Kälte der Werkstatt schnell abkühlt, greife ich mir das Seil, das aufgerollt unter der Werkbank liegt, und haste damit zum Fenster.
Aus dem Kellergewölbe ertönt ein Krachen. Auch dort sind sie jetzt durchgebrochen.
Nur noch Augenblicke …
Ich blicke nach unten.
Die Wege, die nach rechts zum Stall hinabführen, sind verlassen. Sechs oder sieben Johanniter sind vorhin dort hinuntergestürmt. Ich vermute, sie folgen Al-Mansurs Spuren. Irgendwann werden sie feststellen, dass der Hengst keinen Reiter hat. Dann werden sie umkehren, weil sie keine Fußtritte von mir finden können. Die anderen Johanniter erstürmen gerade das Aedificium, um mich in die Enge zu treiben.
Los, Sandra!
Ich öffne das Fenster und spähe hinunter, während ich das Seil an der Verstrebung festknote. Dort unten ist der Felsvorsprung, der wie die knorrige Wurzel einer Eiche aus dem massiven Mauerwerk herauswächst. Darunter sind die treppenartigen Rampen – nach links zur Terrasse vor dem Châtelet, nach rechts zum Stall. Ich werfe das Seil hinab. Dann hole ich die Ikone von der Werkbank und schiebe sie mir unter die Jacke. So schnell ich kann, klettere ich auf den Fenstersims, rutsche auf Knien rückwärts durch das Fenster und lasse mich an der Außenwand hinunter.
Als ich fünf oder sechs Ellen unterhalb des Fensters bin, höre ich, wie eine Axt in die Tür der Werkstatt kracht.
Im dichten Schneetreiben blinzele ich nach oben. Wie lange wird es dauern, bis sie mich entdecken?
Über mir wird das Fenster der Abtzelle geöffnet. Ein Gesicht taucht auf und blickt zu mir herunter. »Da ist sie! Eine Armbrust, na los, nun macht schon!«
Schneller, Sandra!
Schmerzhaft heiß rutscht das Tau durch meine Finger, während ich mich so schnell wie möglich abseile. Dann spüre ich die verschneite Felsnase unter meinen Füßen.
Weiter!
Etliche Ellen tiefer springe ich in den tiefen Schnee, wende mich um und renne die Stufen hinunter zum Weg, der ins Tal führt.
Ein schriller Pfiff genügt.
Schon höre ich ein leises Wiehern.
Da kommt Al-Mansur auch schon angetrabt!
Meine Verfolger kommen immer näher. »Da ist sie! Lasst sie nicht entkommen!«
Wo ist Jibril? Noch in der Abteikirche? Oder schon im Stall, um mir zu folgen? Ich kann ihn nirgendwo entdecken.
Ich stopfe die Ikone in die Satteltasche, ergreife die Zügel, schiebe den Stiefel in den Steigbügel und schwinge mich in den Sattel. Dann wende ich Al-Mansur in Richtung Tal.
Plötzlich ein dumpfer Knall. Der Bolzen einer Armbrust zischt über mich hinweg und dringt in den tiefen Schnee.
Al-Mansur reißt erschrocken den Kopf hoch, doch ich halte die Zügel straff.
»Y’allah imshi!« Ich beuge mich über seine mit Schnee bedeckte Mähne und flüstere ihm ins Ohr: »Dein berühmter Vorfahr, der Hengst Al-Buraq, konnte fliegen. Der Prophet Mohammed ist auf ihm in den Himmel geritten. Los, Al-Mansur, dann zeig mir mal, ob auch du fliegen kannst!«
Kapitel 111
Auf dem verschneiten Weg ins Tal
23. Dezember 1453
Kurz nach ein Uhr nachts
Der schneidend kalte Wind treibt mir den Schnee ins Gesicht, und meine Haut fühlt sich an, als würde sie mit einem Dolch zerschnitten.
Mit gesenktem Kopf galoppiere ich den verschneiten Pfad entlang, der wegen der Huftritte der Pferde trotz der
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