Das letzte Evangelium: Historischer Roman (German Edition)
führt. Bald haben wir das Tal erreicht.
Jibril stößt plötzlich einen Schmerzensschrei aus.
»Was ist?«, brülle ich.
»… bin getroffen!«, presst er hervor.
»Wo?«
»Rechte Schulter.«
»Geht’s?«
Er knirscht mit den Zähnen und stößt einen wüsten Fluch aus. Vermutlich zieht er sich gerade den Bolzen aus der Schulter.
»Geht’s?«, wiederhole ich meine Frage.
»Und wenn nicht?«
»Lasse ich dich zurück.«
»Dann geht’s doch«, knirscht er.
»Na also.« Ich blicke wieder nach vorn.
In diesem Augenblick gleitet Al-Mansur auf dem Eis unter der Schneeschicht aus und gerät ins Schlingern. Erschrocken wiehert er auf und reißt den Kopf hoch. Ich ziehe sachte an den Zügeln und lenke ihn zurück auf den tief verschneiten Weg.
Als ich mich vorbeuge, um Al-Mansur beruhigend auf den Hals zu klopfen, schwirrt plötzlich ein Bolzen über mich hinweg.
Unsere Verfolger sind schon ganz nah.
Plötzlich erkenne ich auch vor uns eine Gruppe von Reitern mit Fackeln. Dreißig oder vierzig Bewaffnete, vielleicht noch mehr. Der Schnee brennt in meinen vor Wind und Kälte tränenden Augen, sodass ich durch den glitzernden Tränenschleier nicht genau erkennen kann, wer uns da in schnellem Trab entgegenkommt. Waffen blitzen auf. Schwerter und Hellebarden.
Noch mehr Johanniter?
Wo kommen die denn her?
Der Zorn lässt mich meine panische Todesangst vergessen.
Im Galopp beuge ich mich nach hinten, schnalle die Armbrust los und lege sie quer über meine Schenkel. Dann fummele ich den Köcher mit den Bolzen los und hänge ihn mir um. Das Laden und Spannen der Armbrust mit erfrorenen, gefühllosen Händen ist eine echte Herausforderung.
Mit einem Ruck ziehe ich den Spannhebel nach hinten, lasse ihn in den Hebelverschluss mit der Spannfeder einrasten und klappe das Visier hoch. Nicht, weil es mir bei Nacht und Nebel etwas nützen würde. Sondern, weil es mir Sicherheit gibt, dass ich meinen Gegner treffen kann. Ich lege mir den Schaft gegen die rechte Schulter und wende mich im Galopp um.
»Runter!«
Jibril wirft sich über den Hals seines Pferdes, als ich über ihn hinwegschieße.
Mit einem trockenen Knall schnappt die Bogensehne, und der Bolzen zischt los.
Nachladen!
Während ich den nächsten Bolzen aus dem Köcher ziehe und einlege, blicke ich nach vorn.
Die Gruppe der uns entgegenkommenden Reiter ist jetzt sehr viel näher. Fünfzig Bewaffnete in Helm und Harnisch mit Waffen, die im Fackelschein funkeln.
Dio mio, aiutami! Mein Gott, hilf mir!
Spannen!
Wieder drehe ich mich im Sattel um und brülle: »Runter!«
Jibril zieht den Kopf ein und lehnt sich zur Seite, damit ich über ihn hinwegschießen kann.
Schaft gegen die Schulter, Finger an den Abzug und …
… Schuss!
Der Bolzen flitzt über Jibrils Schulter hinweg und verschwindet im Schneegestöber. Ob ich getroffen habe? Weiß ich nicht. Denn ich sehe schon wieder nach vorn.
Wir reiten den Bewaffneten geradewegs in die Arme! Es gibt keine Möglichkeit, ihnen auszuweichen!
Ich will schon wieder nachladen, als ein Bolzen durch mein wehendes Haar zischt. Von vorn!
Einer der Reiter hat sein Pferd gezügelt und die Armbrust auf mich gerichtet – die anderen halten sich hinter ihm. »Sandra!«, brüllt er und spannt schon wieder. »Bist du das?«
Mein langes Haar, das im Schneesturm hinter mir herweht, hat mich verraten.
»Prospero?«
Er hat Hilfe geholt!, denke ich erleichtert.
»Kopf runter, Sandra!« Der Kardinal im silbernen Harnisch legt an, zielt an mir vorbei und schießt.
Der Bolzen zischt an meiner Schulter vorbei.
Dann ein Schrei!
Erschrocken wende ich mich um.
Jibril ist getroffen. Der Bolzen ragt aus seiner Brust. Er versucht, den kurzen Schaft herauszuziehen, aber seine Hand rutscht immer wieder ab von dem blutigen Holz.
Mit einem erstickten Röcheln kippt er nach hinten aus dem Sattel und stürzt in den Schnee.
Kapitel 114
Auf dem verschneiten Weg ins Tal
23. Dezember 1453
Kurz vor zwei Uhr nachts
Ungestüm zerre ich an Al-Mansurs Zügeln, bis der Hengst rutschend zum Stehen kommt, schwinge mein rechtes Bein über seinen Hals, springe noch im Trab ab, lasse mich in den tiefen Schnee fallen, rappele mich sofort hoch und hetze zurück zu Jibril, der in verkrümmter Haltung im Schnee liegt.
Neben ihm knie ich mich in den Schnee. »Jibril!«
»… skandra … hilf … mir …« Röchelnd tastet er nach dem Bolzen. Auf dem schwarzen Habit bildet sich unterhalb des weißen Johanniterkreuzes ein großer Blutfleck.
Ich
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