Das letzte Evangelium: Historischer Roman (German Edition)
der Hand stehe ich an der Brüstung einer Stadtmauer aus rotem Stein. Keine drei Schritte entfernt schlägt ein Felsbrocken mit Donnergetöse in die Mauer. Scharfkantige Steinsplitter fliegen durch die nach Feuer und Schwefel riechende Luft und prasseln auf mich herab. Schreiend werfe ich mich auf den Boden. Mein Helm und mein Harnisch dröhnen vom Aufprall der Bruchstücke. Steinstaub und unerträglicher Durst zwingen mich zum Husten. Neben mir kreischt ein Mann mit blutüberströmtem Gesicht und presst sich die Hände gegen Stirn und Augen – einer meiner Bravi?
Keuchend springe ich auf und sehe mich um. Vor mir wogt das Schlachtengetümmel, es ist ein Sturmangriff der Yeniçeriler. Die grellen Mündungsfeuer der Kanonen, die auf die Mauer gerichtet sind, blenden mich. Neben dem Purpurzelt des Padi ş ah flattern Standarten im Wind. Bis zum Horizont nehme ich Feuer, Rauch, Getöse und Geschrei wahr. Dazwischen höre ich Trommeln und Trompeten, Pferdewiehern und Waffenklirren, gebrüllte Befehle und schrille Schmerzensschreie. Welch furchtbarer Anblick!
Und hinter mir die Stadt. Ich wende mich um. Die Glocken läuten Sturm, um uns Mut zu machen. Unter gewaltigem Kanonendonner, der die Luft um uns herum erzittern lässt, fliegen Felsbrocken über uns hinweg und prallen bis zu eine Meile entfernt auf Häuser, Paläste und Kirchen, deren Mauern zerbersten und einstürzen. Der Boden unter meinen Füßen bebt. Schwarze Rauchwolken von feuernden Kanonen und brennenden Häusern, Obstbäumen und Weinbergen rauben mir den Atem. Das ›Kyrie eleison‹ der blutüberströmt umherstolpernden Menschen und das Dröhnen der großen Glocken, die den Allmächtigen um Barmherzigkeit anflehen, machen diese Nacht zur Hölle …
Doch da ist plötzlich noch etwas anderes.
Leiser Psalmengesang? Lateinisch, nicht griechisch.
Nein, der Gesang gehört nicht zu meiner Erinnerung. Ich lausche angestrengt und ziehe meine Augenbrauen zusammen.
Jetzt kann ich es deutlicher hören!
»De profundis clamavi ad te Domine …«
Der 130. Psalm – das Totengebet!
Halten die Fratres das Stundengebet der Prim? Oder feiern sie schon meine Totenmesse, während ich noch in meinem Grab liege und darauf warte, dass sie mich lebendig einmauern?
Gott verfluche sie! Ich muss weg von hier – sofort!
Aber wie?
»Domine exaudi vocem meam fiant aures tuae intendentes in vocem deprecationis meae …«
Leise dringt der getragene Gesang der Mönche zu mir, ein unheilvoller Cantus choralis.
Von Todesangst erfüllt, versuche ich wieder, mich zu bewegen. Ich konzentriere mich auf meine linke Hand. Mit aller Kraft schiebe ich sie zur Seite, dorthin, wo ich die Öffnung der Grabnische vermute. Bewegt sich die Hand? Ja? Nein? Ich kann nichts spüren …
»Si iniquitates observabis Domine? Domine quis sustinebit?«
Noch einmal!
Meine Fingerspitzen bewegen sich nicht!
»Quia apud te propitiatio est propter legem tuam sustinui te Domine sustinuit anima mea in verbum eius.«
Noch einmal!
Angenommen, ich schaffe es, mich aus der Grabnische zu ziehen, dann werde ich aus drei oder vier Ellen Höhe hart auf die Steinfliesen fallen – und was dann? In welche Richtung soll ich wegkriechen? Ich muss mich an den Wänden entlangtasten, um das Gewölbe zu verlassen. Ich kann doch nichts sehen!
Nicht aufgeben! Und jetzt die Hand!
»A custodia matutina usque ad noctem speret Israel in Domino.«
Halt! Das kann nicht sein! Der Text stimmt nicht. Was ist aus dem ›Speravit anima mea in Domino‹ geworden? Meine Seele hofft noch auf den Herrn! Ich bin nicht tot!
»Quia apud Dominum misericordia et copiosa apud eum redemptio …«
Die Hand – ich muss mich konzentrieren!
Wieder nichts! Die Zeit zerrinnt mir zwischen den Fingern. Gleich werden sie zurückkommen, um die Grabplatte vor die Nische zu schieben.
Lebendig begraben! O Gott, hilf mir doch!
»… et ipse redimet Israel ex omnibus iniquitatibus eius.«
Plötzlich wird es still. Das Gebet ist beendet.
Kurz darauf kann ich ihre Schritte durch die Abteikirche hallen hören. Sie kommen eine lange Treppe herunter in die Krypta, ein Gewölbe unterhalb der Basilika.
Panisch schiebe ich meine Hand zum Rand meiner Grabnische. Und ich erschrecke beinahe zu Tode, als ich plötzlich eine leise Berührung unter meinen Fingerspitzen spüre. Meine Hand hat sich bewegt!
Weiter! Beeil dich!
Da! Noch ein Fingerbreit in Richtung der Kante!
Trotz der sich rasch nähernden Schritte lächle ich triumphierend, ich kann nicht
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