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Das letzte Experiment

Das letzte Experiment

Titel: Das letzte Experiment Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Philip Kerr
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mochte, ich konnte mir inzwischen denken, was vor uns lag. Ein Ausflug auf dem Fluss. Oder besser, über den Fluss. Den Río de la Plata. Vielleicht war es ja besser so. Wenigstens würden wir nicht ertrinken. Der Sturz allein würde uns töten.
    Die Tür wurde geschlossen, und das Flugzeug setzte sich in Bewegung. Jemand, eine Männerstimme, ein oder zwei Meter entfernt, murmelte ein Gebet. Ein anderer erbrach sich vor Angst. Ein starker Geruch nach Magensäure und menschlichen Exkrementen und Kerosin erfüllte die Luft.
    «Dann stimmen die Gerüchte also?», fragte ich. «Es gibt keine Fallschirme in der Argentinischen Luftwaffe?»
    Eine Frau fing an zu weinen. Hoffentlich ist es nicht Anna, dachte ich.
    Die Flugzeugmotoren brüllten. Ich meinte zu erkennen, dass es nur zwei waren. Eine C-47   Dakota wahrscheinlich. Man sah diesen Typ häufig über dem Río de la Plata. Die Leute draußen vor dem Richmond pflegten von ihren Zeitungen und ihren Getränken aufzublicken und dumme Witze über die Flugzeuge zu reißen. «Da geht sie hin, die Opposition», oder: «Warum können Kommunisten nicht im Río de la Plata schwimmen? – Weil ihre Hände gefesselt sind!» Der Boden unter mir begann laut zu vibrieren. Ich spürte, wie die Maschine beschleunigte. Sekunden später machte sie einen Satz, und wir waren in der Luft. Die Vibrationen verebbten zu einem stetigen Dröhnen, und das Flugzeug begann zu steigen. Die weinende Frau steigerte sich allmählich in Hysterie.
    «Anna?», rief ich. «Bist du das? Ich bin hier   …»
    Jemand versetzte mir einen Schlag ins Gesicht. Hart. «Keine Unterhaltungen»,befahl eine Männerstimme. Jemand zündete sich eine Zigarette an, und wieder einmal wurde mir klar, warum ich Raucher war. Der Duft von brennendem Tabak ist der wunderbarste Geruch auf der Welt, wenn man dem Tod ins Auge sieht. Ich erinnerte mich an einen feindlichen Artillerieangriff 1916.   Eine Zigarette hatte mir geholfen, das Bombardement zu überstehen, ohne die Nerven zu verlieren oder mir in die Hosen zu machen.
    «Ich hätte nichts gegen eine Zigarette», sagte ich. «Unter den Umständen   …»
    Ich hörte eine Männerstimme vom anderen Ende der Kabine etwas murmeln, und ein paar Sekunden später und zu meiner größten Überraschung schob mir jemand eine Zigarette zwischen die Lippen. Sie brannte bereits. Ich rollte sie in den Mundwinkel, und meine Lungen machten sich an die Arbeit.
    «Danke», sagte ich.
    Ich versuchte, mich in eine bequemere Lage zu manövrieren. Es war nicht einfach, doch das hatte ich auch nicht erwartet. Die Fesseln an meinen Handgelenken saßen so straff wie die Haut einer fetten Schlange. Meine Hände waren geschwollen wie Ballons. Es gelang mir, die Beine auszustrecken, die nicht gefesselt waren, und ich trat jemand anderen. Vielleicht würde ich einem Hai ins Auge treten, bevor ich starb – vorausgesetzt, ich überlebte den Aufprall auf die Wasseroberfläche. Ich fragte mich, wie hoch der Pilot steigen würde, bevor sie uns über Bord werfen würden.
    Minuten vergingen. Ich war am Ende angelangt. Ich spuckte die Zigarette aus, und sie landete auf meiner Schulter und versengte meine Haut, bevor sie auf den Boden fiel. Ich hoffte, dass sie vielleicht in einer Kerosinpfütze landete und ein Feuer verursachte. Das würde sie lehren, Frieden mit mir zu schließen. Dann fing es an zu regnen. Das Prasseln auf dem Rumpf hörte sich an wie Kieselsteine. Ich atmete tief durch und versuchte mich zu wappnen. Die Verhandlungen gingen zäh voran. Ich sagte Bernie Gunther, dass er sich zu den Glücklichen zählen sollte. Wie vielen anderen war es je gelungen,aus einem russischen Kriegsgefangenenlager zu entfliehen? Ich erzählte mir immer noch, wie viel Glück ich bis hierher gehabt hatte, als jemand meine Glückssträhne unterbrach und die Tür öffnete. Kalte Luft und Regen fetzten durch die Kabine mit einem Lärm wie ein furchtbares Wolkenmonster. Ein Minotaurus der Himmel, der sein regelmäßiges Menschenopfer einforderte.
    Es war unmöglich zu erkennen, wie viele wir waren. Ich schätzte, wenigstens sechs oder sieben. Nachdem die Tür offen stand, schien der Pilot die Motoren ein wenig zu drosseln. Rings um mich herum war Bewegung, doch bisher hatte mich niemand gepackt und in Richtung Tür geschoben. Es gab ein Getümmel, und eine nackte Frau fiel auf mich. Ich merkte, dass sie nackt war, weil ihre Brust auf mein Gesicht drückte und weil sie kreischte und schrie. Als sie von mir weggerissen

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