Das letzte Experiment

wurde, beschloss ich, dass es an der Zeit war, etwas zu sagen – sonst konnte ich es den Seemöwen erzählen.
    «Colonel Montalban? Wenn Sie an Bord sind, reden Sie mit mir, verdammtes Schwein!»
    Die kreischende Frau fing an zu betteln und zu flehen, sie am Leben zu lassen. Es war nicht Anna. Die Stimme klang älter, reifer, rauchiger und weniger gebildet. Es war schwierig, mehr über ihre Stimme zu sagen, weil sie plötzlich verstummte, und ich spürte, dass sie nicht mehr an Bord war.
    Hinter mir murmelte ein Mann wieder und wieder das gleiche Gebet, als würde er so vor dem Jüngsten Gericht bessere Chancen haben. Er sprach hektisch, sein Atem ging schnell, und ich wusste, dass er der Nächste sein würde. Und gerade, als ich dachte, dass er bereits draußen war, ertönte sein letzter Schrei und verhallte im Propellerwind.
    Ich versuchte die Augenbinde abzustreifen, doch vergeblich. Es war, als hätte ich keine Augen. Ich wünschte, sie hätten mir auch die Ohren verschlossen, während die übrigen Männer und Frauen rings um mich einer nach dem anderen durch die Tür nach draußen geschubstwurden. Es war, als hätte man einen Platz in der ersten Reihe in einem Höllentheater.
    Ich tobte wie ein Mann, der am Spieß geröstet wird. Ich verfluchte ihre Mütter und Väter und ihre Kinder. Ich sagte dem Colonel, was ich von ihm hielt und von diesem ganzen Land und seinem Präsidenten und dessen krebskranker Frau und dass ich derjenige sein würde, der als Letzter lachte, weil ich wusste, was Montalban und was Evita so dringend zu erfahren hofften, und dass ich ihm jetzt überhaupt nichts mehr sagen würde, selbst dann nicht, wenn er mich nicht aus dem Flugzeug warf. Ich sagte ihm, dass ich lachend in den Tod gehen würde. Dass ich ihm ins Gesicht spucken würde in dem Wissen, dass ich seine und ihre dummen Intrigen durchkreuzt hatte. Jemand schlug mir mit dem Handrücken ins Gesicht. Ich ignorierte es und redete weiter.
    «In einem Monat von heute an, in einer Woche oder vielleicht sogar schon morgen werden Sie und diese dumme blonde Hure sich fragen, ob Gunther wirklich gewusst hat, was er zu wissen behauptete. Ob er Ihnen wirklich hätte sagen können, wo Sie finden, was Sie am dringendsten auf der Welt suchen. Wo Sie
sie
finden können. Wo sie sich die ganze Zeit über versteckt gehalten hat. Möchten Sie es nicht erfahren, Colonel?»
    Ich hörte eine andere Frau schreien, bevor auch sie von der offenen Tür für immer zum Schweigen gebracht wurde. Masochistisch, wie ich war, bildete ich mir ein, ihre Stimme erkannt zu haben, ihren Duft zu kennen. Doch ich ließ mich nicht verunsichern. Falls Anna getan hatte, was ich ihr geraten hatte, und bei einer Freundin untergeschlüpft war, hatte ich im Gegenteil jeden Grund zu der Annahme, dass sie gesund und in Sicherheit war.
    Jemand riss mir die Augenbinde herunter. Gerade rechtzeitig, um zu sehen, wie zwei meiner schnurrbärtigen Freunde einen Mann zu der offenen Flugzeugtür trugen. Zu seinem Glück war er bewusstlos. Er trug nichts außer einer Unterhose. Seine Hände und Füße waren gefesselt, und er sah schlimm zugerichtet aus. Entwederdas, oder er war von einem Wespenschwarm überfallen worden, der ihm das Gesicht übel zerstochen hatte. Seine Zehen waren kaum als solche wiederzuerkennen. Die beiden Kerle, die ihn aus der Tür warfen, glaubten wahrscheinlich, dass sie ihm einen Gefallen taten. Einer der beiden zerrte ein schmutziges Taschentuch aus der Hose und wischte sich damit die Stirn ab. Es war eine anstrengende Arbeit. Dann sah er mich an.
    «Was haben Sie erwartet?», fragte in diesem Moment eine Stimme hinter mir. «Ich hatte Sie eindrücklich gewarnt, die Sache nicht weiterzuverfolgen.»
    Mein Nacken schmerzte immer noch von dem Handkantenschlag, doch ich biss die Zähne zusammen und drehte den Kopf, bis ich dem Colonel in die Augen sehen konnte.
    «Ich hatte nicht erwartet zu finden, was ich gefunden habe», sagte ich. «Ich hatte nicht mit dem Undenkbaren gerechnet. Nicht schon wieder. Nicht hier in diesem Land. Das hier ist doch angeblich die Neue Welt. Ich hatte nicht erwartet, dass sie ist wie die Alte. Aber nachdem ich Ihre nationale Fluglinie gesehen habe und weiß, wie sie mit doppelt gebuchten Passagieren umspringt, erscheint das alles natürlich einleuchtend.»
    «Das hier?» Er zuckte die Schultern. «Es ist einfacher so. Keine Beweise, keine Lager, keine Leichen, keine Gräber. Nichts. Niemand kann jemals irgendetwas beweisen. Es ist ein