Das letzte Geleit: Kriminalroman (German Edition)
Tote auch allein in den Sarg betten.
Dann öffnete er Annas Augen und setzte ihr blassblaue, transparente Plastiklinsen auf die Augäpfel. Anschließend zog er die Lider wieder nach unten. Die Linsen würden den schnellen Verfall der Augen kaschieren, die sonst schon wenige Tage nach dem Tod unnatürlich eingesunken wirkten. Sie waren mit winzigen Widerhaken besetzt, die die Augen zuverlässig geschlossen hielten.
Ganz zum Schluss kam Annas Gesicht an die Reihe. Im Tod war die Gewebsflüssigkeit gestockt, was das Antlitz der Verstorbenen maskenhaft und verkniffen wirken ließ. Unter seinen Händen fühlte sich die Haut wie Knetmasse an. Für die Massage benutzte er eine spezielle Feuchtigkeitscreme, die die einsetzende Austrocknung verzögern sollte.
Wenige Minuten später schien die tote Frau unter Theos Händen wie verwandelt. Der Bestatter legte die altersfleckigen Hände auf der Brust zusammen. Dann trat er einen Schritt zurück und begutachtete sein Werk. Theo war mit sich zufrieden. Die Verstorbene sah zwar unleugbar tot aus, aber immerhin sehr friedlich.
»Du bist eine sehr schöne Frau gewesen, Anna Florin«, sagte er. May schnaubte jedes Mal verächtlich, wenn sie mitbekam, dass er mit den Toten sprach, die er herrichtete.
Eingehend betrachtete er die Tote. Anna hatte ein Gesicht, das mit den Jahren zwar runzlig geworden war, aber seine charakteristischen Züge nicht verloren hatte. Die dünne pergamentartige Haut spannte sich über eindrucksvollen Wangenknochen. Das Haar war eisgrau und voll und fiel in weichen Wellen aus der Stirn. Ihre schmale Nase war relativ groß. Sie schien auf Entschlusskraft und Durchsetzungsvermögen hinzudeuten. In den Mundwinkeln allerdings war selbst im Tod noch ein spitzbübisches Lächeln zu ahnen.
So, wie sie nun dalag, kam sie Theo mit einem Mal irgendwie bekannt vor. Allerdings war das auf der Insel keine Seltenheit. Man lief sich zwangsläufig über den Weg, beispielsweise am trostlosen Knotenpunkt des Wilhelmsburger S-Bahnhofs, auf dem im Fünfminutentakt heranbrausende Züge die Menschen in nur sieben Minuten zum Hamburger Hauptbahnhof beförderten. Man begegnete sich am Elbstrand. Oder eben auf dem Friedhof, wo fast jeder bestattet wurde, der auf der Elbinsel gelebt hatte. Auswärtige hingegen kamen selten nach Wilhelmsburg. Die idyllischen Seiten des Stadtteils waren den meisten Hamburgern unbekannt.
Ein letztes Mal fuhr Theo mit der weichen Bürste durch Annas Haar. Plötzlich stutzte er. Er schob eine Locke hinter ihr Ohr und zog die Haut ein wenig straff. »Merkwürdig«, murmelte er, »sehr merkwürdig.«
Er streifte die Latexhandschuhe ab, ging zum Waschbecken und wusch sich gründlich. Dann fuhr er mit den feuchten Händen durch das Haar. Im Licht der Neonröhren wirkte sein Gesicht blass, und seine dunklen Bartstoppeln traten deutlich hervor. Er ging in den Vorraum und klaubte das Handy aus der Innentasche seines Wintermantels.
»Du, ich hab hier was Komisches entdeckt.«
»Weißt du, wie spät es ist?«, schnaubte May.
Er zögerte.
May seufzte genervt. »Hat das nicht Zeit bis morgen?«
»Vermutlich schon.« Er massierte sich den Nacken. »Aber nicht wirklich.«
»Also gut, ich komme.« May legte auf und ließ den Kopf zurück in die Kissen sinken. Der Radiowecker sprang auf 23:14 Uhr. Theo wusste genau, wie unausstehlich sie morgen sein würde, wenn sie nicht genug Schlaf bekam. Er hätte sie sicher nicht angerufen, wenn es nicht wirklich wichtig wäre – schon aus Selbstschutz.
»Und?« Mürrisch blickte sie auf die bleiche Haut, die Theo hinter Annas Ohr freigelegt hatte. Er deutete mit dem Finger auf eine winzige Wunde.
»Ein Piekser?«
»Das da«, dozierte Theo, »war eine Injektion.«
»Und?«
»Warum sollte man jemandem etwas hinters Ohr spritzen?«
May zuckte die Schultern. »Du bist hier der Arzt«, entgegnete sie spitz.
»Eben.« Er runzelte die Stirn. »Für eine Injektion hinter dem Ohr gibt es einfach keinen vernünftigen Grund.«
»Botox?«
Er zog die Augenbrauen hoch. »Wie eine Botoxkundin sieht sie nun wirklich nicht aus. Und überhaupt: Was willst du denn bitte schön hinter dem Ohr straffen?« Er ließ Annas Haare zurückfallen. »Für mich sieht das so aus, als ob jemand versucht hätte zu verschleiern, dass er der Frau etwas injiziert hat.«
May starrte auf die Stelle, an der Annas Locke den Einstich verhüllte. Sie fröstelte. Irgendwie hatte sie das Gefühl, Theo könnte recht haben.
Im Flur herrschte
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