Das letzte Geleit: Kriminalroman (German Edition)
Finsternis. Schon seit Jahren plante Theo, eine Deckenlampe zu installieren – doch dazu war es nie gekommen. Seine Frau Nadeshda hatte für das weichere Licht einer Stehlampe plädiert. So tastete er sich wie üblich den Weg durch die fast vollständige Dunkelheit, bis er mit sicherem Griff das Kabel der kleinen Lampe erreichte. In der plötzlich aufflammenden Helligkeit stand Friedrich, wie Nadeshda das Schwein getauft hatte. Es trug einen blaugrünen Morgenmantel und reckte in seiner Pfote einen altmodischen Lampenschirm empor. Theo hatte ihn vor ein paar Jahren bei E-Bay erstanden, nachdem er und Nadeshda sich den Film »Die fabelhafte Welt der Amélie« angesehen hatten. Neben Amélies Bett hatte eine solche trickanimierte Schweinelampe gestanden. Das Schwein war um das Wohlergehen der Amélie rührend besorgt gewesen.
Im kombinierten Wohn-, Ess- und Arbeitszimmer brannte Licht. Nadeshda lag bäuchlings auf dem Sofa und las in einem leinengebundenen Büchlein. Ihre schmalen Fesseln überkreuzten sich spielerisch in der Luft, eine große Hornbrille balancierte auf ihrer Nasenspitze und drohte jederzeit abzustürzen. Sie lächelte ihn an. Theo lehnte sich in den Türrahmen, und der vertraute Schmerz presste sein Herz zusammen. Seit drei Jahren kam er in Wellen wie Ebbe und Flut, nur nicht ganz so regelmäßig.
»Nadeshda«, sagte er erschöpft. Er ging hinaus, hinüber ins Bad. Er ließ die Kleider auf den Boden fallen und stellte sich unter die Dusche. Das Wasser war so heiß, dass es fast schmerzte. Er stützte sich mit den Händen an der Wand ab und ließ den kräftigen Strahl auf Nacken und Schultern prasseln. Nadeshda. Seine umwerfende, temperamentvolle, geistreiche Frau. Bis sie auftauchte, kamen die Mädchen und gingen. Dunkelhäutige und blasse, mollige und dünne, süße und kratzbürstige. Nie hatte es länger gehalten als ein Jahr, meist waren es nur ein paar Monate. Er hatte sich immer damit entschuldigt, dass er auf »die Eine« wartete. Und dann hatte er mit Mitte zwanzig Nadeshda getroffen. Er drehte das heiße Wasser ab und schnappte nach Luft, als der eiskalte Strahl ihn traf.
Das Problem war natürlich, dass er sie trotzdem betrogen hatte.
Als er ins Wohnzimmer zurückkam, war sie fort. Er trat ans Bücherregal und ließ seinen Blick über die vielen Buchrücken schweifen. Eines stand ein wenig vor. »Scotts Sammelsurium«, eine Zusammenstellung schrägen Wissens. Er nahm es in die Hand und stellte fest, dass jemand ein Eselsohr darin hinterlassen hatte. Wie oft hatte er mit seiner Frau darüber gestritten, dass sie so wenig pfleglich mit den Büchern umging. Er schlug es an der markierten Seite auf und las. Es handelte sich um eine Passage, die ihn selbst betraf, eine kuriose Liste jener Berufe, die Frauen bei Männern besonders unattraktiv finden. Ganz oben stand der Totengräber. Er lächelte. Theo hatte Nadeshdas scharfzüngigen Humor immer zu schätzen gewusst.
Er klappte das Buch zu und schob es zurück ins Regal. Als er Nadeshda betrogen hatte, hatte er das Bild, das er von sich selbst gehabt hatte, zerstört. Er hatte immer geglaubt, dass er, sobald er seine große Liebe gefunden hätte, nie mehr eine andere Frau anschauen würde. So wie sein Vater. Zumindest glaubte er, dass es bei seinen Eltern so gewesen war. Jetzt musste er damit leben, ein Dreckskerl zu sein.
Er schenkte sich ein Glas Rotwein ein. Der Tod der alten Frau war ihm gehörig an die Nieren gegangen. Fatih und Erik Florin hatten viel von Anna Florin erzählt. So hatte der junge Türke von einer Eskapade berichtet, bei der er mit Anna spontan mitten in der Nacht an die Nordsee gefahren war. »Wie üblich zu irgendeinem Leuchtturm. Die Dinger hatten’s ihr irgendwie angetan.« Fatih und Anna hatten den Sonnenaufgang beobachtet und anschließend Rühreier mit Krabben an der Strandbar gefrühstückt.
Erik Florin konnte mit solchen intimen Momenten zu seinem Kummer nicht aufwarten: »Ich habe Anna eigentlich nie wirklich kennengelernt.« Er hatte seine Mutter stets beim Vornamen genannt – absonderlich für die damalige Zeit. Aufgewachsen war er, so berichtete er, bei seiner Pflegemutter Line, Annas bester Freundin.
»Meine Mutter hat immer geschuftet wie eine Wahnsinnige, ich habe sie kaum zu Gesicht gekriegt«, hatte Florin erzählt. Erst während des Krieges als Krankenschwester und später dann als Ärztin. Sie war eine der ersten Deutschen gewesen, die sich bei »Ärzte ohne Grenzen« engagiert hatte, und war bis
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