Das letzte Geleit: Kriminalroman (German Edition)
in ihre hohen Sechziger in Afrika unterwegs gewesen, berichtete der Sohn stolz. »Manchmal habe ich gedacht, sie ist vor mir davongelaufen«, sagte er schließlich leise. Seinen Vater hatte er nie kennengelernt. »Sie hat sich immer geweigert, über ihn zu sprechen – nicht einmal Line hat sie etwas erzählt.«
Nachdenklich ließ Theo den Wein im Glas kreisen. Obwohl er sie zu Lebzeiten nicht gekannt hatte, schien ihm inzwischen selbst, als sei die Welt durch Annas Tod etwas dunkler geworden. Offenbar war sie eine außergewöhnliche Person gewesen. Er trank einen Schluck. Die Sache mit der Injektionswunde machte ihm zu schaffen. Wenn tatsächlich jemand versucht hatte, den Einstich zu verbergen, hatte er sicher nichts Gutes im Schilde geführt. Sollte wirklich jemand die zierliche alte Frau ermordet haben, die in der Kühlkammer auf ihre Einäscherung wartete? Andererseits hatte die Obduktion offenbar nichts Verdächtiges ergeben.
Theo dachte an seine Mutter. Er hatte erst ein Jahr nach ihrem Tod herausgefunden, dass sie keineswegs durch einen gewöhnlichen Unfall gestorben war, sondern dass der Fahrer des Wagens Fahrerflucht begangen hatte. An einem verregneten Sonntagnachmittag hatte Theo aus lauter Langeweile im sonst sorgfältig verschlossenen Schreibtisch seines Vaters gestöbert. Da war ihm ein Zeitungsausschnitt aus dem »Abendblatt« in die Hände gefallen, den sein Vater sorgsam aufbewahrt hatte. Man hatte Sara Matthies in einer warmen Sommernacht in der Nähe einer alten Mühle gefunden. Dort hatte sie offenbar ein Auto erfasst, als sie nach einem Besuch bei ihrer Freundin heimgeradelt war. Sein Vater, der häufig früher zu Bett ging als seine Frau, hatte ihr Fehlen nicht bemerkt und war erst vom Klingeln der betretenen Polizeibeamten geweckt worden. Der Täter wurde nie gefasst.
Ihr Tod war umso tragischer, als man sie hätte retten können. »Sie ist verblutet, weil der Fahrer keine Hilfe geholt hat«, hatte sein Vater ihm Jahre später erzählt. Der Bestatter hatte den Tod seiner Frau nie verwunden. Danach war er oft geistesabwesend und melancholisch. Ohne Fräulein Huber hätte er das Geschäft nicht halten können. Der Schmerz der Hinterbliebenen rührte stets an seine eigene Wunde.
Nachdem sein Vater gestorben war, fand Theo eine Mappe in seinen Unterlagen. Darin abgeheftet waren die Ergebnisse einer Recherche, mit der sein Vater einen Privatdetektiv betraut hatte. Doch auch er war offensichtlich nicht weit gekommen. Es gab keine Spuren und keine Zeugen.
Theo stand auf und wanderte durch das Zimmer. Die Sache mit Anna Florin ließ ihm einfach keine Ruhe. Theo fühlte sich für die Toten in seiner Obhut genauso verantwortlich wie einst für seine Patienten. Der Verdacht, dass einer von ihnen womöglich ermordet worden war und wieder ein Täter ungestraft davonkommen sollte, machte ihn zornig. Wäre Nadeshda jetzt bei ihm, würde sie mit Sicherheit von ihm verlangen, dass er etwas unternahm.
Nadeshda. Der Umstand, dass sie wie üblich unerwartet aufgetaucht und wieder verschwunden war, hob seine Stimmung auch nicht eben. Niedergeschlagen betrachtete er sein verzerrtes Gesicht im Spiegel des Weinglases.
Plötzlich klopfte es ans Fenster. In der Finsternis konnte er Mays Gesicht erkennen, auf das Licht aus der Wohnung fiel. In ihrem weißen Mantel sah sie aus wie ein Gespenst. Mit einer Geste bedeutete er ihr, hereinzukommen.
Eine Spukgestalt, die die Geister vertreibt, dachte er erleichtert.
Die Haustür des alten Bauernhauses war wie üblich nicht verriegelt. May schlüpfte herein. Sie holte sich ein Glas aus der Küchenanrichte, schenkte sich ein und lehnte sich an den Rahmen der Wohnzimmertür.
»Ich kann jetzt sowieso erst mal nicht schlafen«, sagte sie mürrisch. Theo unterdrückte ein Lächeln. Er wusste genau, dass May nur gekommen war, damit er nicht allein vor sich hinbrütete.
Montag, 8. Dezember 2008
Anna folgte dem alten Mann durchs Gewühl des Weihnachtsmarktes, der wie jedes Jahr die Ufer der Binnenalster säumte. Die Stände, an denen die Händler Glühwein, Lebkuchen, Kitsch und Kunsthandwerk feilboten, waren in schneeweißen, orientalisch anmutenden Zelten untergebracht. In den Bäumen funkelten blassblaue Lichter. Wie der Eispalast der Schneekönigin, dachte Anna. Sie hatte Mühe, sich nicht abhängen zu lassen. Zum Glück war der alte Mann groß und schritt für sein Alter erstaunlich aufrecht dahin, sodass sein weißer Schopf viele Marktbesucher überragte. Als er am
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