Das letzte Geleit: Kriminalroman (German Edition)
lange Geschichte.«
»Vielleicht sollen wir uns treffen.«
»Aber unbedingt.«
Sie verabredeten sich für den nächsten Tag. Theo musste eine Trauerfeier in der Kirchdorfer Kreuzkirche vorbereiten, und Hanna Winter hatte sich bereit erklärt, nach Wilhelmsburg zu kommen.
»Ist sie hübsch?«, hatte sie gefragt.
»Wer denn?«
»Na, die Kirche.«
»Sehr hübsch. 14. Jahrhundert. Zumindest die Grundmauern. Der Rest stammt aus dem 16.«
»Wunderbar. Dann würde ich sagen, treffen wir uns doch einfach am Altar.«
Dienstag, 23. Dezember 2008
Während Theo die Blumenarrangements vor dem Altar zurechtrückte, überlegte er zum wiederholten Mal, was für ein Typ diese resolute Journalistin wohl war. Hochgewachsen stellte er sie sich vor, mit einem aristokratischen Pferdegesicht und großen Füßen. Im Internet hatte er kein Foto von ihr gefunden. Dafür jede Menge Zeugnisse ihres Schaffens. Sie hatte überwiegend über medizinische Themen geschrieben mit einigen Exkursionen in den Gerichtsjournalismus. Zu seiner Beruhigung hatte sie Artikel in den Topmagazinen der deutschen Medienlandschaft veröffentlicht. Keine Klatschreporterin also.
Er ließ sich auf der Bank in der ersten Reihe nieder und betrachtete den Altar. Über dem schlichten, kleinen Holzkreuz standen dort die vier Evangelisten: Matthäus mit dem Kind, Markus mit dem Löwen, Lukas mit dem Stier, Johannes mit dem Adler. Die Statuen waren schneeweiß, die Gewänder und Heiligenscheine schimmerten in echtem Gold. Theo hatte sich auch nach dreißig Jahren nicht ganz an diesen Anblick gewöhnt. Erst in den späten 70er-Jahren hatte man die zuvor bunt bemalten Figuren restauriert und ihnen ihr ursprüngliches weiß-goldenes Erscheinungsbild zurückgegeben. Theo hatte die bunten Figuren seiner Kindheit vorgezogen. Sie waren ihm menschlicher erschienen.
In den Anblick versunken, schrak er zusammen, als plötzlich jemand neben ihn auf die Bank schlüpfte. »Wirklich sehr hübsch, Ihre Kirche«, sagte die Schmirgelpapierstimme. Hanna Winter sah natürlich völlig anders aus, als Theo sich vorgestellt hatte. Klein, rundlich und energisch, erschien sie auf den ersten Blick eher unscheinbar. Ihre fast schwarzen Locken standen in alle Richtungen vom Kopf ab. Die kräftigen, geraden Brauen, die über der Nasenwurzel einander zustrebten, erinnerten ihn an Frida Kahlo. Allerdings hatte die Journalistin keinen Schnurrbart wie die große mexikanische Künstlerin, registrierte Theo. Ihr Gesicht schien ständig in Bewegung zu sein, was in den vierzig Jahren ihres Lebens zu einigen mimischen Gebrauchsspuren geführt hatte. Querfalten auf der Stirn zeugten von häufigem überraschtem Augenbrauenheben. Ihre Nase war zart, mit ständig gebläht scheinenden Flügeln – eine Frau, die jede Witterung aufnimmt, dachte Theo.
Am stärksten beeindruckte ihn der Blick: Die hellgrauen Augen erinnerten ihn an Fotos seines Urgroßvaters, des Kapitäns. Ein Blick, der unentwegt zu erspähen versuchte, was jenseits des Horizonts lag.
Hanna Winter lächelte breit und entblößte dabei eine charmante Lücke zwischen den Schneidezähnen. »Freut mich«, sagte sie und streckte Theo die Hand zu einem kräftigen Händedruck hin. »Man bekommt hier nicht zufällig irgendwo einen Kaffee?«
»Zufällig doch. Kommen Sie mit.«
Wenige Minuten später saßen sie bei »Sohre«. Gemeinsam mit der Kirche und dem alten Schulhaus bildete der Gasthof eine kleine Enklave wirklich alter Häuser in dem größtenteils in den 30er-Jahren entstandenen Ortsteil Kirchdorf. An der Wand hing die alte Fotografie einer imposanten Dame mit weißer Haube. Vermutlich eine frühere Besitzerin.
Hanna Winter wärmte sich die Finger an einem großen Becher Milchkaffee. »Wirklich eine Scheißkälte heute«, sagte sie fröhlich. Sie nahm einen kräftigen Schluck, wischte sich den Milchschaum mit dem Handrücken ab. »Dass ich auf der Preisverleihung war, war eigentlich ein purer Zufall«, fing sie dann an. »Ich hatte gerade erst einen unerhört mühsamen Artikel über den aktuellen Stand der Hirnforschung geschrieben. Bei meinen Recherchen bin ich immer wieder auf denselben Namen gestoßen: Jonathan Bergman. Obwohl er seit über einem Jahrzehnt nicht mehr selbst forscht – da war er immerhin auch schon Anfang achtzig –, hat man überall auf seine Arbeiten verwiesen. Er ist gewissermaßen eine Art Guru in seinem Fach. Die Gelegenheit, ihn einmal live zu erleben, wollte ich mir nicht entgehen lassen.« Sie
Weitere Kostenlose Bücher