Das letzte Geleit: Kriminalroman (German Edition)
schüttete ein weiteres Päckchen Zucker in ihren Kaffee – das dritte, wie Theo mit leisem Schauder registrierte – und rührte energisch um. »Sie können sich vorstellen, wie baff ich und die ehrenwerte Gesellschaft im Saal waren, als Anna plötzlich ihre ungeheuerlichen Anschuldigungen vom Stapel ließ.« Sie grinste bei der Erinnerung. »Ganz großer Auftritt. Ich also nichts wie hinterher.«
»Was hat sie Ihnen denn nun erzählt?«
Das Gesicht der Journalistin verdüsterte sich. »Das ist eine wirklich ganz finstere Geschichte«, sagte sie. Sie sah Theo direkt in die Augen. »Sie beginnt im Jahr 1943.«
Montag, 12. April 1943
Im Zug war es stickig. Es roch nach ranziger Wolle und flüchtig gewaschenen Leibern. Anna stand eingequetscht zwischen einer alten Dame, die unablässig vor sich hinmurmelte, und einem korpulenten Mann in speckigem Anzug, der sich gefährlich über dem Wanst spannte. Anna starrte durch das Fenster der Zugtür, vor der sie stand. Draußen war es neblig, sodass sie kaum noch etwas in der vorbeihuschenden Landschaft erkennen konnte. Stattdessen spiegelte sich ihr Gesicht vage in der schmuddeligen Scheibe. Anna sah ein blasses, mageres Mädchen mit großen Augen unter dichten, dunklen Augenbrauen. Mama hatte sie unbedingt zupfen wollen.
»Kind«, hatte sie geklagt und ein abgegriffenes Kinomagazin geschwenkt, »lass mich dich doch ein kleines bisschen zurechtmachen.« Vom Heftchen blickte überirdisch schön Zarah Leander. Die Augenbrauen der Diva waren zu zwei schmalen, elegant geschwungenen Linien zurechtgestutzt. Anna war nicht interessiert. Als sie eines Tages auch noch mit einem Bubikopf nach Hause gekommen war, war ihre Mutter sogar in Tränen ausgebrochen. »Welcher Mann nimmt denn eine Frau mit so einer Frisur?«, hatte sie gejammert und verzweifelt ihre langen blonden Locken geschüttelt.
»Mama, ist dir schon mal aufgefallen, dass es hier momentan nicht gerade wimmelt vor jungen Männern? Die sind alle im Krieg!«
Vom langen Stehen taten ihr inzwischen die Füße weh. Anna hoffte inständig, dass jemand sie am Bahnhof abholen würde. Der Zug hatte mehrfach mitten auf der Strecke anhalten müssen, und nun war sie fast drei Stunden zu spät dran. Die Aussicht auf einen längeren Fußmarsch war wenig verlockend.
Als sie schließlich aus dem Zug kletterte, fand sie sich auf einem verlassenen Bahnsteig wieder. Wolkenfetzen zogen in wilder Jagd über den Himmel, und der kalte Wind ließ ihren dünnen Mantel flattern. Resigniert hob sie ihren abgestoßenen Lederkoffer an und stiefelte in Richtung Ausgang.
»Hallo«, rief da eine Stimme hinter ihr. »Warte doch mal.« Vom anderen Ende des Bahnsteigs kam ein Mädchen mit wehenden Zöpfen angelaufen. »Entschuldigung«, sagte sie außer Atem. »Kennst du dich hier zufällig aus?«
Anna schüttelte den Kopf. »Ich bin zum ersten Mal da.«
»Ach was, du auch.« Das Mädchen lachte, und Anna sah tiefe Grübchen in ihren Wangen auftauchen.
»Jetzt sag bloß, du willst auch nach Stift Eichenhof?« Anna nickte verblüfft. Das Mädchen setzte sein Bündel auf dem Boden ab und streckte Anna die Hand hin. »Line, ich meine Caroline Müller«, sagte sie. »Ich fange morgen in Eichenhof als Kinderschwester an.«
Anna nahm die weiche Hand. »Anna Florin«, sagte sie. »Und ich soll auch auf der Kinderstation arbeiten.« Plötzlich kam ihr der düstere Aprilnachmittag weniger trüb und der Wind nicht mehr ganz so schneidend vor.
Die beiden Mädchen gingen hinaus auf den Bahnhofsvorplatz.
»Schau mal, ein Gasthof.« Anna deutete auf ein wuchtiges Gebäude. Aus den Fensterritzen schimmerte ein wenig Licht auf das Kopfsteinpflaster.
»So eine schlampige Verdunklung hätte unser Blockwart niemals durchgehen lassen«, witzelte Line.
»Wo kommst du denn her?«
»Wilhelmsburg«, sagte Line. »Und du?«
»Winterhude«, sagte Anna.
»Piekfeine Gegend«, bemerkte Line anerkennend. Anna zuckte verlegen die Achseln.
»Wenn ich jemanden am Bahnhof abholen müsste, würde ich da drin warten, statt mir einen abzufrieren«, überlegte Line und hüpfte auch schon die breiten, ausgetretenen Stufen des Gasthauses empor. Anna eilte ihr hinterher.
Die Gaststube war nahezu leer. Nur in einer Ecke kloppten vier alte Männer Skat.
»Mensch, Anton, du schummelst doch alwedder«, rief der eine entrüstet.
»Entschuldigung«, sagte Line laut. »Ist einer der Herren zufälligerweise aus Eichenhof?« Der des Schummelns Beschuldigte erhob sich und machte
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