Das letzte Geleit: Kriminalroman (German Edition)
9
Lange Schatten
Montag, 22. Dezember 2008
Langsam ging Theo zurück zu seinem Wagen. Es war nun fast dunkel, sodass die wenigen Boote, die im Winter noch in dem kleinen Hafenbecken lagen, nur als Scherenschnitte auf dem Wasser tanzten. Das Klickern, mit dem die Metallwanten an die Masten der Jollen schlugen, und die sanft schwappenden Wellen auf dem Elbstrand waren die einzigen Geräusche.
Dass Bergman offenbar ein Holocaustüberlebender war, brachte Theos Gedanken ins Trudeln. Für ihn waren die Opfer des Naziregimes moralisch unantastbar. Einen von ihnen einer so finsteren Tat wie eines Mordes zu bezichtigen, war ein Affront, fand er. Andererseits: Wäre es nicht nachvollziehbar, dass ein Opfer von maßloser, kalter Gewalt selbst zum Täter wurde? So wie manches Opfer sexuellen Missbrauchs selbst zum Täter wird? Blieben alle Opfer? Oder konnten die seelischen Verkrüppelungen zur Folge haben, dass jemand selbst zum Monster mutierte? Bergman war zwanzig gewesen, als die Nazis in Deutschland an die Macht kamen. Vielleicht hatte man nach solchen Erfahrungen wenig Skrupel, einen Menschen zu töten, wenn man zugesehen hatte, wie Millionen verhungerten, in Elektrozäunen verschmorten, totgeprügelt, erschossen, vergast wurden. Oder ist einem angesichts solcher Gräuel ein einziges Menschenleben erst recht kostbar? Theo wusste es nicht. Er machte kehrt und ging an der Elbchaussee entlang zurück.
Plötzlich ertönte die Erkennungsmelodie der »Sendung mit der Maus«. Sein Handy. Er stöhnte. Ein Streich von Lilly, zweifellos.
»Hallo«, sagte eine tiefe, schmirgelpapierraue Stimme. »Hanna Winter. Ich sollte mich bei Ihnen melden.«
Für einen Moment war Theo irritiert. Die Stimme schien eher zu einem Mann als zu einer Frau zu passen.
»Sie haben mir doch eine E-Mail geschrieben. Wegen Anna. Anna Florin.«
»Ach ja, natürlich.«
»Haben Sie eine Nachricht für mich?«
»Das nicht.«
»Sie ist doch nicht etwa krank?«
»Leider nicht. Ich meine, sie ist nicht krank, sie ist leider tot.«
»Was???«
»Anna Florin ist letzte Woche verstorben. Sie hatte Ihnen kurz vor ihrem Tod eine E-Mail geschrieben.«
»Moment mal, tot? So plötzlich?«
»Sie ist anscheinend erfroren.«
»Was soll das heißen, ›anscheinend‹?«
Die Frau mit der männlichen Tonlage feuerte ihre Fragen wie Torpedos auf Theo ab.
»Annas E-Mail«, erinnerte Theo, »können Sie mir vielleicht sagen, worum es da ging?«
»Sind Sie ein Verwandter von ihr?«
»Nicht direkt. Eher so etwas wie ein Freund.«
»So was wie?«
»Offen gestanden, ich bin der Bestatter.«
»Na so was.« Die Frau lachte. Es klang wie das Bellen eines asthmakranken Hundes. »Verzeihung, das mit Anna ist wirklich ein Schreck. Aber wieso wollen Sie mit mir sprechen?«
»Das ist etwas kompliziert«, sagte Theo.
»Scheint mir auch so.«
Theo beschloss, mit der Wahrheit herauszurücken. »Offen gestanden, bin ich mir nicht ganz sicher, dass …«, er machte eine Pause und holte tief Luft, »… dass Anna Florin eines natürlichen Todes gestorben ist.« Reichlich verkrampfter Umgang mit dem Tod für einen Bestatter, dachte er.
»Sie meinen, jemand hat sie getötet?«
Theo nickte und versuchte, mit einer Hand den hochgeklappten Kragen seiner Lederjacke zum Schutz gegen den Wind möglichst eng um seinen Hals zu zurren. »Ganz genau.«
»Und die Polizei?«
»Die konnte ich von meiner Theorie noch nicht so ganz überzeugen.«
Die Frau ließ wieder ihr seltsames Lachen hören.
»Die E-Mail, die Anna an Sie geschrieben hat, klang so mysteriös. Da dachte ich mir, vielleicht können Sie mir weiterhelfen.«
»Mysteriös ist das richtige Wort. Anna hat mir eine ganz ungeheuerliche Geschichte erzählt.«
»Verzeihen Sie, wenn ich so direkt frage, aber woher kennen Sie Anna überhaupt?«
»Oh, kennen ist zu viel gesagt. Wir haben uns nur ein einziges Mal getroffen. Auf der Preisverleihung für Professor Bergman.«
»Wo Anna diesen Wirbel veranstaltet hat.«
Erneutes Bellen. »Das war wirklich grandios. Als man sie rausgeschmissen hat, bin ich natürlich gleich hinterher.«
»Warum das, wenn Sie sie doch gar nicht kannten?«
»Oh, Neugier ist mein zweiter Name. Ich bin Journalistin. Wenn man im Klischee bleiben wollte, könnte man sagen, ich habe gewittert, dass diese grauhaarige Amazone eine gute Geschichte parat hat. Ihr Auftritt hat mich einfach interessiert.«
»Und was hat Anna gesagt?«
Die Frau schwieg einen Moment. »Das ist eine ziemlich
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