Das letzte Geleit: Kriminalroman (German Edition)
Bewegung gebraucht«, sagte sie fröhlich. Ihr Deutsch war hervorragend, wie das vieler Grenzdänen. Im Norden Schleswig-Holsteins wurde zwar im Gegenzug in den Schulen auch Dänisch als Fremdsprache angeboten, aber das Ergebnis war meist weniger eindrucksvoll. Bodil Norlander war 42 Jahre alt, 1,66 Meter groß und wog federleichte 53 Kilo. Ihr Haar trug sie kurz, strubbelig und kirschrot, ihr Lächeln wirkte ironisch, und die nordseegrauen Augen blickten den Gast neugierig an. Sie war von Kopf bis Fuß in Schwarz gekleidet, und Hannas reportagegeschulter Blick registrierte, dass das schmale Handgelenk ein Armband aus Totenköpfen schmückte. Bodil bemerkte ihren Blick und lachte.
»Hübsch, nicht? Das hat mir meine Tochter aus Tibet mitgebracht.« Sie ließ die Schädel klimpern. »Die sind aus Yakknochen geschnitzt und sollen böse Geister fernhalten.« Sie blickte stolz auf ihr Handgelenk. »Komm, wir gehen in mein Büro. Hast du was dagegen, wenn wir zu Fuß gehen, statt den Fahrstuhl zu nehmen? Wie gesagt, ich brauche ein bisschen Bewegung.«
»Na, dann gehen wir doch zu Fuß.«
Als sie schließlich im fünften Stock angekommen waren, war Hanna komplett außer Atem. Die zierliche Klinikleiterin war wieselflink und offenbar bestens in Form.
»Oje, du bist ja ganz aus der Puste«, sagte sie schuldbewusst. »Ich vergesse immer, dass ja nicht alle täglich zehnmal solche Treppen steigen.«
Bodil öffnete die Tür zu ihrem Büro. Der Aufstieg hatte sich gelohnt. Von hier aus hatte man einen atemberaubenden Blick über das Meer.
Der Strand war weiß mit Schnee überpudert, von dem sich der feuchte Sandstreifen dunkel abhob, an dem die Wellen leckten. Der Wind war mäßig, die See fast ruhig, sodass nur einige zahme Wellenkämme wechselnde Muster in das dunkle Wasser zogen. Spektakulärer war heute der Himmel, auf dem die blasse Wintersonne die hohen Wolkentürme dramatisch ausleuchtete.
»Badet der etwa?«, fragte Hanna, als sie eine Gestalt am Strand schnurstracks auf das Wasser zusteuern sah. Es war offenbar ein betagter Mann, der, soweit Hanna erkennen konnte, splitternackt über den Sand stapfte. Bodil trat neben sie.
»Das ist Hakon. Soweit ich weiß, badet er hier seit über sechzig Jahren. Und zwar jeden Tag.«
»Unfassbar«, murmelte Hanna. Sie selbst weigerte sich, auch nur ihren großen Zeh in ein Gewässer zu tauchen, das nicht mindestens 25 Grad hatte. Sie schauderte.
»Ist unheimlich gesund«, sagte Bodil. »Bestimmt wird er hundert. – Kaffee, Wasser, Saft?«, fragte sie.
»Kaffee wäre schön.«
Während die Klinikleiterin mit den Tassen hantierte, sah Hanna sich um. Der Raum war sehr modern und zugleich anheimelnd eingerichtet. Auf dem hellen Holzboden lag ein cremefarbener Wollteppich, auf dem eine moderne Sitzgruppe aus weichem braunem Leder stand. Vor dem Fenster war der weiße Schreibtisch aufgestellt, davor standen zwei bequem aussehende Besucherstühle. Eine Wand bedeckten Bücherregale mit medizinischen Werken. Dazwischen reihten sich aber auch persönliche Gegenstände: ein paar große rund gewaschene Steine mit interessanter Maserung. Eine kleine Buddhafigur. Ein paar Fotos. Hanna nahm eines zur Hand, auf dem Bodil eng umschlungen mit einer jungen Frau stand. Das Mädchen war einen Kopf größer als sie und hatte milchkaffeefarbene Haut.
»Meine Tochter Julie«, sagte Bodil stolz. »Mein Mann stammt aus Äthiopien«, fügte sie die unvermeidliche Frage vorwegnehmend hinzu.
»Dafür, dass du so jung bist, hast du eine große Tochter.«
»Das liegt bei uns in der Familie – ich werde bald Oma.«
»Gratuliere.« Hanna griff nach einem weiteren Bild, das offenbar die ganze Familie zeigte. Ein ebenholzfarbener hochgewachsener Mann und vier Kinder in unterschiedlicher Größe und Farbschattierung. Hanna wusste, dass Familie und Karriere in Dänemark sehr viel einfacher zu vereinbaren waren als in Deutschland – auch schon vor zwanzig Jahren. Sie dachte an ihren Schwangerschaftsabbruch mit 25. Damals hatte sie mitten im Studium gesteckt. Hätte sie sich anders entschieden, wenn sie in Dänemark gelebt hätte?
Bodil bugsierte Kaffee, Milch und die unvermeidlichen dänischen Zimtschnecken zur Sitzgruppe.
»Dann erzähl mal, was kann ich für dich tun?«
Hanna biss in das Gebäck und ordnete kurz ihre Gedanken.
»1943 hat in dieser Klinik ein junger Arzt Unterschlupf gefunden, der sich Jonathan Bergman nannte.«
Bodil registrierte die vorsichtige Formulierung, hakte aber
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