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Das letzte Geleit: Kriminalroman (German Edition)

Das letzte Geleit: Kriminalroman (German Edition)

Titel: Das letzte Geleit: Kriminalroman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Christiane Fux
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nicht nach.
    »Er war angeblich aus einem Konzentrationslager geflüchtet.«
    Bodil beugte sich interessiert vor.
    »Während des Krieges hat mein Großvater diese Klinik geleitet«, sagte sie.
    »Lebt er noch?«
    Bodil schüttelte den Kopf. »Ich habe ihn leider nie kennengelernt. Meine Großmutter hat mir allerdings davon erzählt, dass sie immer wieder Widerstandskämpfer bei sich versteckt hatten. Als Kind fand ich das wahnsinnig romantisch. Ein Arzt war auch darunter. Das könnte er vielleicht gewesen sein. Aber warum interessierst du dich für ihn?«
    »Weil dieser Bergman nicht war, was er vorgegeben hat.« Und Hanna erzählte ihr die Geschichte von Anfang an. Von Annas Tod, dem Verdacht des Bestatters und ihren Recherchen. Bodil war eine gute Zuhörerin. Als Hanna ihren Bericht beendet hatte, schwieg sie. Nachdenklich kaute sie auf ihrer Unterlippe.
    »Mir kommt da gerade eine ganz ungeheuerliche Idee«, sagte sie.
    Anna hob ihre Augenbrauen.
    »Soweit ich mich erinnere, kannte mein Großvater diesen Flüchtling, also diesen Arzt, von früher. Sie hatten wohl zusammen studiert. Das heißt, er muss in die Geschichte mit der neuen Identität eingeweiht gewesen sein.«
    »Das muss ja nicht unbedingt heißen, dass er auch wusste, was von Vries tatsächlich getrieben hat. Er kann ihm ja irgendein Lügenmärchen aufgetischt haben – das kann er offenbar gut, wenn er fast siebzig Jahre damit durchgekommen ist.«
    »Das meine ich auch gar nicht. Mein Großvater hätte nie einem Naziverbrecher geholfen. Er war selbst aktiv im Widerstand. Unter anderem war er maßgeblich daran beteiligt, als wir 1943 alle dänischen Juden in einer Nacht- und Nebelaktion nach Schweden verschifft haben – in Sicherheit.«
    Sie erhob sich und trat vor das große Fenster. Mit dem Rücken zu Hanna sagte sie: »Mein Großvater ist kurz nach Kriegsende ermordet worden. Man hat ihm in einer dunklen Seitengasse gleich hier bei der Klinik die Kehle durchgeschnitten. Seine goldene Taschenuhr war weg. Den Mörder hat man nie gefasst.«
    Sie drehte sich zu Hanna um. »Vielleicht war das gar kein Räuber …«
    Hanna nickte langsam. »Für von Vries muss es enorm wichtig gewesen sein, dass niemand sein Geheimnis kannte, dass niemand die Verbindung zwischen seiner alten und seiner neuen Identität herstellen konnte.«
    »Großer Gott.« Bodil ließ sich auf die Kante ihres Schreibtischs sinken. Die beiden Frauen starrten einander an. Der Fall wurde immer unheimlicher.
    Zwanzig Minuten später saßen sie im Wintergarten von Bodils Großmutter Åsa. Wie das Haus war auch der lichte Anbau sicher schon an die hundert Jahre alt. So ein skandinavischer Wintergarten war immer Hannas Traum gewesen. Auch an einem Wintertag wie diesem war er voller Helligkeit. Den oberen Teil der Fenster schmückten bleiverglaste Jugendstilszenen: eine Frau im weißen Gewand, die eine Traube hielt. Ein Mädchen, das an einer Rose roch. Ein Junge mit einem Fuchs. Die Fenster gaben den Blick in einen alten Obstgarten frei. Die Bäume waren knorrig und mit Schnee bestäubt. Hanna entdeckte einen letzten schrumpeligen Apfel an einem Ast. Von einem der Bäume baumelte ein Vogelhäuschen aus Birkenholz, an dem eine winzige Meise turnte. »Wunderschön haben Sie es hier«, sagte Hanna bewundernd. Die alte Åsa nickte freundlich. In ihrem blau-weiß karierten Ohrensessel sah sie aus wie eine runzelige Kopie ihrer Enkelin: die gleiche zierliche Statur, die gleiche Stupsnase und sogar die gleiche kirschrote Strubbelfrisur. Als hätte man einen Zwilling in eine Zeitmaschine gesteckt, die ihn im Zeitraffer gealtert zurückgebracht hatte.
    Åsa hielt noch immer das Foto in den Händen, das Hanna ihr gegeben hatte.
    »Ja, das ist zweifellos Jonathan Bergman«, sagte sie ruhig. Wie ihre Enkelin sprach sie ausgezeichnet Deutsch. »Er hat sich vom Sommer 1943 bis zum Kriegsende bei uns versteckt. Damals haben wir noch ein Häuschen auf dem Gelände der alten Klinik gehabt.« Sie lächelte. »Tags hat er auf dem Dachboden gehockt und gearbeitet. Immer, wenn ich ihm etwas zu essen gebracht habe, saß er da mit einem Haufen Papiere und hat wie ein Wilder geschrieben.« Sie schlug die Beine übereinander und umfasste ein Knie. »Abends haben wir oft Skat gespielt, Jonathan, Thorbjörn und ich. Meistens hat Jonathan gewonnen. Er war in jeder Hinsicht brillant.«
    Sie dachte an die langen Abende, an denen sie zu dritt im Schutz der Verdunkelung gesessen hatten. Jonathan war charmant und

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