Das letzte Geleit: Kriminalroman (German Edition)
geistreich gewesen. Ganz anders als ihr Mann, der ernsthafte und etwas wortkarge Thorbjörn. »Jonathan hat uns immer zum Lachen gebracht mit seinen Geschichten.« Sie schmunzelte. »Er war ein begnadeter Imitator. Hitler, Mussolini, Stalin. Es hat so gutgetan, einmal über alle diese Ungeheuer herzlich lachen zu können.« Sie strich sich eine Haarsträhne hinter das Ohr, die verspielte Geste der viel jüngeren Frau, die sie einmal gewesen war. »Ich glaube, ich habe mich damals sogar ein bisschen in ihn verliebt«, gestand sie. »Nicht, dass da irgendwas gewesen wäre. Aber er war einfach so ungeheuer anziehend.«
»Haben Sie gewusst, dass Jonathan Bergman nicht sein wahrer Name war?«
»Das schon. Aber ich wusste nicht, wer er wirklich war, und auch sonst so gut wie nichts über sein Vorleben. Irgendwann hat Jonathan einmal angedeutet, dass sie sich vom Studium her kennen. Thorbjörn hatte eine Weile in Hamburg studiert … Er war natürlich ein paar Jahre älter als Jonathan, aber er hat ja auch erst spät angefangen.« Sie griff nach einer Zimtschnecke, die vor ihr auf dem Tisch lag, biss hinein und legte sie wieder weg. Das Licht, das durch die Buntglasfenster fiel, malte farbenfrohe Tupfen auf den Tisch. »Thorbjörn wollte schon immer Medizin studieren. Aber das ging erst, als sein Vater starb.« Sie lächelte entschuldigend. »Er war sehr reich. Aber er wollte aus seinem einzigen Sohn einen Industriellen machen, wie er selbst einer war. Erst als er tot war, konnte Thorbjörn seine Träume verwirklichen. Sein Medizinstudium. Und die Heirat mit mir.« Sie blickte Anna an. »Ich war damals ein einfaches Ladenmädchen. Weit unter seinem Stand. Aber Thorbjörn wollte keine andere.«
»Das kann ich mir gut vorstellen«, lächelte Hanna.
»Nach dem Studium in Hamburg kam er zurück, und wir haben geheiratet. Als er sich im Widerstand engagierte, hat er mir das erzählt. Aber ich wusste nichts Genaues. Er war immer der Meinung, je weniger ich weiß, desto sicherer für mich – und für die Flüchtlinge.« Sie lächelte den beiden jungen Frauen entschuldigend zu. »Ich konnte noch nie gut Schmerzen ertragen. Wenn man mich gefoltert hätte, hätte ich alles und jeden verraten.«
Bodil beugte sich vor und drückte ihrer Großmutter kurz die Hand. »Das weiß doch keiner, was er aushält, wenn es hart auf hart kommt.«
»Ich wusste nur, dass Jonathan sich vor den Nazis verstecken musste, wie so viele, denen Thorbjörn geholfen hat.« Sie blickte versonnen auf das Bild in ihrer Hand. Dann schaute sie zu Hanna.
»Warum interessierst du dich so für diese alten Geschichten?«
Hanna warf Bodil einen raschen Blick zu. Die nickte ermutigend.
»Ich glaube, dass Jonathan Bergman in Wirklichkeit ein anderer ist. Ich glaube, er hat jemanden getötet, der wusste, wer er wirklich war.«
»Ein Mörder«, sagte Åsa langsam. Sie betrachtete das Foto, das noch immer in ihrem Schoß ruhte. »Er war wirklich ganz reizend. Aber das ist natürlich genau das Problem, nicht wahr?« Sie blickte auf und sah Hanna direkt in die Augen. »Charme blendet die Menschen. Charme ist eine Maske, hinter der sich alles verbergen lässt. Eine verletzliche Seele. Sogar Dummheit. Und natürlich auch das Böse.«
Als die beiden jungen Frauen gegangen waren, saß Åsa noch lange in ihrem Sessel. Sie blickte aus dem Fenster und sah zu, wie sich die Dämmerung erst langsam und dann immer rascher über den winterlichen Garten legte. Die Nachbarskatze, ein enormes orange getigertes Tier, schlich um die Bäume und warf einen begehrlichen Blick hinauf zum Vogelhäuschen, wo eine Meise außerhalb ihrer Reichweite seelenruhig Futter pickte. Hanna und Bodil hatten sich zwar abgesprochen, ihren ungeheuerlichen Verdacht vor der alten Frau geheim zu halten, ihr nicht zu erzählen, dass Jonathan womöglich auch seinen Freund Thorbjörn auf dem Gewissen hatte. Aber Åsa war immer eine scharfsinnige Frau gewesen. Sie dachte an ihren Mann, wie er vor sechzig Jahren bleich in seinem Sarg gelegen hatte. Sie dachte an Jonathans Hand, die tröstend auf ihrer Schulter geruht hatte. Sie schauderte. Nein, Åsa war nicht dumm. Sein Bild lag in kleine Fetzen zerrissen, wie Konfetti um ihren Sessel verstreut. Schließlich erhob sie sich mit steifen Gliedern und ging ins Bett. In dieser Nacht sollte sie nicht schlafen können.
Dienstag, 6. Januar 2009
»Wir stecken fest«, brachte Theo die Lage auf den Punkt. »Wir wissen jetzt ziemlich sicher, wer Jonathan Bergman in
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