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Das letzte Hemd ist bunt: Die neue Freiheit in der Sterbekultur (German Edition)

Das letzte Hemd ist bunt: Die neue Freiheit in der Sterbekultur (German Edition)

Titel: Das letzte Hemd ist bunt: Die neue Freiheit in der Sterbekultur (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Fritz Roth
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empfinden sie Nähe zu dem Menschen, den sie vermissen. Es ist ein Stück »Wirklichkeit des Todes« und beruhigt in seiner Konkretheit die ständig wechselnden Gefühle, die Außenstehende oft rat- und hilflos machen, weil sie sich bis zu einem gewissen Grad auch selbst verändern müssen, wenn sie mit dem Trauernden verbunden bleiben wollen.

Trauerzeit ist Lebenszeit
    Wie lange dauert Trauer? Wie lange darf sie dauern? Die Antwort, so viel steht fest, ist keine Zahl, die Tage, Wochen oder Monate als »Richtwerte« vorgibt. Trauer dauert so lange, wie sie dauert. Ausschlaggebend sind nicht die Dauer der mit dem Verstorbenen verbrachten Lebenszeit, die Umstände des Todes, die eigenen Lebensumstände. Ausschlaggebend ist in erster Linie die Bindung zu demjenigen, der betrauert wird. Das wird besonders deutlich, wenn Eltern um ein Kind trauern, das noch in der Schwangerschaft oder bei der Geburt gestorben ist.
    Trauerzeit ist Lebenszeit. Trauerprozesse beschäftigen sich mit dem, was verloren gegangen ist, aber sie sind alles andere als »verlorene Liebesmüh«. Trauern hat etwas mit Liebe zu tun, wir trauern intensiv nur um Menschen, die uns etwas bedeutet haben. Diese Bedeutung kann aus einer Mischung verschiedener Gefühle bestanden haben, und genauso ist der Trauerprozess eine Mischung aus unterschiedlichsten, teilweise widersprüchlichen Gefühlen. Aber Trauern ist mehr als das Verarbeiten von Gefühlen. Es betrifft auch unsere tägliche Lebensgestaltung, unsere Lebensziele und unser Zusammensein mit anderen Menschen. Trauer mischt sich in jeden Lebensbereich ein. In jeder Straßenbahn und in jedem Großraumbüro sitzen Menschen, die trauern – wenn auch all zu oft unsichtbar.
    Trauerprozesse bestehen aus vielen in sich widersprüchlichen Erfahrungen. Sie lehren uns, dass der Tod zum Leben gehört, dass wir uns erinnern müssen, um vergessen zu können, und dass wir ohne Vergangenheit keine Zukunft haben. Aber was kann an die Stelle der toten Mutter, des toten Bruders oder Kindes treten? Bindungen sind nicht austauschbar, an die Stelle eines gestorbenen Menschen kann kein Lebender treten, jede neue Bindung muss sich einen eigenen Platz im Herzen und im Leben des Trauernden schaffen.
    Für viele Trauernde ist die »letzte Ruhestätte« des Verstorbenen der Ort, an dem in symbolischer Form viele seiner Freunde und Familienmitglieder bei ihm sind. Sie ist der Ort, der diesem Menschen und der Erinnerung an ihn gerecht wird. Neben diesem Ort in der sicht- und fühlbaren Außenwelt ist der »neue Platz« des Gestorbenen in den Gedanken und Gefühlen zu suchen.
    Trauerforscher haben mehrere solcher neuen Plätze oder Rollen ausgemacht, die Tote im Bewusstsein der Weiterlebenden einnehmen können: So können sie als Vorbild dienen oder als gern erinnerter Teil des eigenen Lebens in der Biografie des Trauernden weiterleben. Die niederländische Trauerbegleiterin Ruthmarijke Smeding hat verschiedene mögliche Endpunkte eines Trauerprozesses beschrieben. »Integration« nennt sie die ständige Präsenz eines verstorbenen Menschen im Alltag, in den Gesprächen und Gedanken des Hinterbliebenen, wobei diese Präsenz als selbstverständlich und nicht als belastend empfunden wird.
    Trauer ist unsere Antwort auf Sterblichkeit und Verlust. Wir gestalten unsere Trauerprozesse für uns allein, aber gleichzeitig auch inmitten der Gesellschaft, zu der wir gehören. Die persönliche Trauer eines jeden wird von den Meinungen und Gewohnheiten der Umwelt beeinflusst. Umgekehrt verändert jeder, der seine Trauer offen zeigt, seinerseits auch seine Umwelt. Eine Gesellschaft ohne Trauer ist arm, weil sie keinen Weg gefunden hat, mit Sterblichkeit und Verlusten umzugehen und das Band, das Lebende und Tote verbindet, zu erkennen und zu respektieren.

8
    Jeder Abschied ist einzigartig

Individuelle Gestaltung statt Pomp
    Heute kann ich mich nur über die naiven Vorstellungen wundern, die ich vom Bestattungswesen hatte, als ich ein traditionsreiches Bestattungshaus in Bergisch Gladbach übernahm. Der Tod war für mich von Kindheit an nie etwas Unnatürliches. Auf dem elterlichen Hof bin ich sehr früh mit dem Tod konfrontiert worden. Als ich sechs Jahre alt war, starb meine Oma. Sie hatte an diesem Tag noch nachmittags, wie es auf dem Bauernhof üblich war, mit allen Kaffee getrunken, danach die Milchkanne gespült und meinem Vater mitgeteilt: »Ich fühle mich nicht wohl, ich gehe nach oben.« Sie ging einfach in ihr Zimmer und legte sich ins

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