Das letzte Hemd ist bunt: Die neue Freiheit in der Sterbekultur (German Edition)
Sterbens zu deuten. Nur noch in den wenigsten Familien leben mehrere Generationen zusammen und können so Erfahrungen mit Altern, Sterben und Tod machen.
Dort, wo die Traditionen schwächer werden, entstehen Freiräume, die zur Entscheidung auffordern. In der Frage, wann Leben endet und Sterben beginnt, verlassen wir uns seit langem auf medizinische Definitionen; in der Frage, wie wir mit den Toten umgehen, rücken ökonomische Aspekte in den Vordergrund. Was wir erleben, ist eine Enteignung: Technik, Konventionen und Standards regieren dort, wo wir nicht (mehr) steuern und gestalten können und wollen. Die modernen, westlichen Gesellschaften tun so, als müssten – als könnten! – sie Tod und (individuelles) Leid aus der Welt schaffen.
Der faustische Ausruf »Zwei Seelen, ach, wohnen in meiner Brust« bringt das Verhältnis der Deutschen zu Tod und Sterben auf den Punkt: Der Normalfall eines langsamen, medikalisierten Sterbens im Krankenhaus wird, wenn es um den eigenen Vater oder die Mutter geht, fast immer klaglos akzeptiert. Den eigenen Tod wollen sich die wenigsten so vorstellen, wenn man die Diskussionen um Patientenverfügungen und ein »Sterben in Würde« ernst nimmt. Für viele stellt sich die Frage, was wir verloren haben, seit es möglich ist, das Lebensende medizintechnisch immer länger hinauszuzögern.
Innerhalb nur einer Generation ist der reale Tod aus unserer Alltagserfahrung verschwunden. Die meisten Jugendlichen haben zwar schon Tausende sterben sehen – allerdings nur auf der Leinwand. Einen echten toten Körper haben die wenigsten schon einmal gesehen. Die Großmutter stirbt im Pflegeheim oder in der Klinik. Sie wird vom Bestatter abgeholt, der uns manchmal Gelegenheit gibt, sie vor der Einäscherung noch einmal zu sehen. So sehr wir im Leben auf Individualität Wert legen, so selten fordern wir als Angehörige im Umgang mit »unseren« Toten, mit unserer Trauer, dieses Recht ein. Die Ausgrenzung des Sterbens aus der Alltagserfahrung, die Auslagerung und Enteignung des Todes findet im Umgang mit den Toten einen nahtlosen Anschluss.
Die enteigneten Toten
Sobald ein Arzt den Totenschein ausgestellt hat, setzen sich die professionalisierten Abläufe unter der Regie des Bestattungsunternehmens fort. Gesetzlichen Vorschriften entsprechend dürfen höchstens zwei Tage vergehen, bis der Verstorbene »in einer dafür vorgesehenen Einrichtung« ordnungsgemäß aufbewahrt und für die Bestattung vorbereitet wird. Die Fragen, die zu beantworten sind – Art der Bestattung, Sargmodell und -ausstattung, Kleidung des Toten, Zeit und Ort der Trauerfeier – geben die in Deutschland erlaubten Bestattungsformen vor. Den meisten Hinterbliebenen bleibt nur die Zuschauerrolle. Vom Waschen und Kleiden des Toten bis zur Trauerfeier beschränken sich ihre Aktivitäten auf Wahlentscheidungen. Zwar ist dies nirgendwo vorgeschrieben, doch die wenigsten wissen, welche Handlungsspielräume sie haben – und noch weniger entschließen sich, diese tatsächlich zu nutzen. So wie wir einen All-inclusive-Urlaub buchen, können wir uns auch für eine All-inclusive-Bestattung entscheiden. Der Begegnung mit dem verstorbenen Bruder oder Vater, der Freundin oder dem eigenen Kind, gehen viele aus dem Weg. »Behalten Sie ihn so in Erinnerung, wie Sie ihn gekannt haben.« So und ähnlich lauten die Ratschläge, die in solchen Lebenssituationen aber oft mehr Schläge als Rat sind.
Wir haben gelernt, zu delegieren, uns auf Experten zu verlassen und Probleme »mental zu verarbeiten«. Doch um die Realität des Todes zu begreifen, bedarf es konkreter Erfahrung und auch der konkreten Begegnung mit dem Toten. Man sollte ihn sehen, fühlen, mit den Sinnen erfassen. Wir brauchen den Anblick der Verstorbenen, doch wir begnügen uns heute beim Abschied von einem vertrauten Menschen mit dem Anblick des blumengeschmückten Sargs oder einer Urne.
Eine normale Trauerfeier in einer deutschen Großstadt dauert kaum länger als eine halbe Stunde und findet in immer kleinerem Kreis statt, wie an den Todesanzeigen abzulesen ist: »In aller Stille wurde beigesetzt …«. Die Selbstverständlichkeit, mit der Nachbarschaften benachrichtigt werden und für den gemeinsamen Kranz sammeln, nahe Angehörige oder Freunde das Tragen des Sarges übernehmen, ist schon lange verloren gegangen. Vom häuslichen Aufbahren des Verstorbenen bis zu den Trauerzügen, die durchs Dorf führten, sind viele Rituale verblasst, die dem Tod einen Platz in der
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