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Das letzte Kind

Das letzte Kind

Titel: Das letzte Kind Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John Hart
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beide auseinanderzuhalten. Ihre Haltung war die gleiche, ihr Gang war der gleiche. Meistens wachten sie morgens um dieselbe Zeit auf, obwohl sie in verschiedenen Zimmern schliefen. Johnnys Mom erzählte, sie hätten eine eigene Sprache gesprochen, als sie klein waren, doch daran konnte er sich nicht erinnern. Er erinnerte sich nur, dass er die meiste Zeit seines Lebens nie allein gewesen war. Es gab ein spezielles Gefühl der Zusammengehörigkeit, das nur sie beide wirklich verstanden hatten. Aber Alyssa war fort, und alles andere mit ihr. Das war die unausweichliche Wahrheit, und sie hatte seine Mutter ausgehöhlt. Also tat Johnny, was er konnte. Er kontrollierte abends die Türschlösser und Fensterriegel und räumte den Dreck weg. Heute brauchte er zwanzig Minuten dazu. Dann setzte er den Kaffee auf und dachte an den zusammengerollten Geldschein.
    Hundert Dollar.
    Essen und Kleidung.
    Er machte einen letzten Kontrollgang durch das Haus. Flaschen — weg. Koksspuren — weg. Er öffnete Fenster und ließ die Welt herein, dann warf er einen Blick in den Kühlschrank. Im Milchkarton rasselte es, als er ihn schüttelte. Ein einsames Ei in der Pappe. Er öffnete die Handtasche seiner Mutter. Sie hatte neun Dollar und etwas Kleingeld. Johnny ließ das Geld drin und klappte die Tasche zu. Er ließ Wasser in ein Glas laufen, schüttelte zwei Aspirin aus dem Röhrchen, ging durch den Flur und öffnete die Tür seiner Mutter.
    Das erste rohe Licht der Morgendämmerung drängte an die Fensterscheibe, eine orangegelbe Wölbung hinter den schwarzen Bäumen. Seine Mutter lag auf der Seite, das Haar war ihr über das Gesicht gefallen. Illustrierte und Bücher bedeckten den Nachttisch. Er machte Platz für das Wasserglas und legte die beiden Tabletten auf das narbige Holz. Einen Moment lang lauschte er ihrem Atem, dann fiel sein Blick auf die Geldscheine, die Ken neben dem Bett hinterlassen hatte. Ein paar Zwanziger, ein Fünfziger. Ein paar hundert Dollar vielleicht, zerknüllt und verschmiert.
    Von einer Rolle heruntergeblättert.
    Hingeworfen.
    Der Wagen in der Einfahrt war alt, ein Kombi, den Johnnys Vater vor Jahren gekauft hatte. Der Lack war sauber und gewachst, und der Reifendruck wurde jede Woche kontrolliert, aber das war alles, was Johnny konnte. Noch immer quoll blauer Qualm aus dem Auspuff, wenn er den Zündschlüssel umdrehte, und das Beifahrerfenster ließ sich nicht vollständig schließen. Er wartete, bis der Qualm weiß wurde, dann legte er den Rückwärtsgang ein und rollte bis zum Ende der Einfahrt. Er hatte natürlich keinen Führerschein, deshalb sah er sich wachsam um, bevor er langsam auf die Straße hinausfuhr. Er hielt die Geschwindigkeit niedrig und blieb auf den Nebenstraßen. Der nächste Supermarkt war nur zwei Meilen weit entfernt, aber er war groß und lag an einer Hauptstraße, und Johnny wusste, dass man ihn dort vielleicht erkennen würde. Deshalb fuhr er noch drei Meilen weiter zu einem kleinen Laden, dessen Kundschaft schäbiger war. Das Benzin kostete Geld, und die Lebensmittel waren teurer, doch ihm blieb keine andere Wahl. Das Jugendamt war schon zweimal bei ihnen gewesen.
    Der Wagen verschwand zwischen denen, die bereits dastanden. Zum größten Teil waren es alte, amerikanische Fabrikate. Ein dunkler Personenwagen rollte hinter ihm auf den Parkplatz und hielt in der Nähe des Eingangs an. Das Sonnenlicht spiegelte sich in den Fenstern, und ein einzelner, gesichtsloser Mann saß am Steuer. Er stieg nicht aus, und Johnny beobachtete ihn, während er auf den Laden zuging.
    Er hatte große Angst vor einzelnen Männern in parkenden Autos.
    Der Einkaufswagen wackelte, als er ihn den Gang hinauf und den zweiten wieder hinunter schob. Nur das Nötigste, entschied er: Milch, Saft, Speck, Eier, Sandwichbrot, Obst. Er kaufte neues Aspirin für seine Mutter. Tomatensaft schien ihr auch zu helfen.
    Der Cop erwartete ihn am Ende von Gang acht. Er war groß und breitschultrig, hatte braune Augen, die zu sanft waren für die Falten in seinem Gesicht und die harten Konturen seines Kiefers. Er hatte keinen Einkaufswagen. Mit den Händen in den Taschen stand er da, und Johnny begriff auf den ersten Blick, dass er ihm gefolgt war. Er hatte diesen Blick. Eine Art von geduldiger Resignation.
    Und Johnny wollte weglaufen.
    »Hey, Johnnys«, sagte der Cop. »Wie geht's?«
    Sein Haar war länger, als Johnny es in Erinnerung hatte. Es war so braun wie seine Augen und fiel in strähnigen Locken über den Kragen, an

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