Das letzte Kind
PROLOG
A sphalt schnitt sich durch das Land wie eine Narbe, eine lange, heiße Brandwunde, schwarz und so gerade wie eine Messerklinge. Noch war die Luft nicht verzerrt von der Hitze, aber der Fahrer wusste, dass es kommen würde, das sengende Gleißen, das Flirren in der Ferne, wo das Blau herunterhämmerte. Er rückte seine Sonnenbrille zurecht und warf einen Blick in den großen Spiegel über der Frontscheibe, der ihm den Bus in ganzer Länge und jeden Fahrgast darin zeigte. Im Laufe von dreißig Jahren hatte er alle möglichen Leute in diesem Spiegel gesehen: hübsche Mädchen und gebrochene Männer, Betrunkene und Verrückte, schwerbrüstige Frauen mit roten, runzligen Babys. Ärger roch der Fahrer schon auf eine Meile; er konnte sehen, wer okay war und wer vor etwas weglief.
Der Fahrer sah den Jungen an.
Der Junge sah aus wie einer, der weglief.
An seiner Nase schälte sich die Haut, aber unter der Sonnenbräune lag die fahle Blässe, die von Schlafmangel oder Unterernährung oder beidem kam. Seine Wangenknochen waren scharfe Grate unter der straff gespannten Haut. Er war noch klein, vielleicht zehn, und sein wirres Haar stand schwarz vom Kopf ab. Es war zackig und ungleichmäßig geschnitten, als habe er das selbst besorgt. Der Stoff an seinem Hemdkragen und an den Knien seiner Jeans war ausgefranst. Die Schuhsohlen waren fast durchgelaufen. Er hielt einen blauen Rucksack auf dem Schoß, und was immer darin sein mochte, viel war es nicht.
Er war ein hübscher Bengel, aber was dem Fahrer am meisten auffiel, waren die Augen. Groß und dunkel und ständig in Bewegung, als sei er sich der Leute um ihn herum übermäßig bewusst, der heißen Enge unter Menschen, die typisch waren für einen klapprigen Bus an einem sonnendurchglühten Morgen in den Sanddünen von North Carolina: ein halbes Dutzend Wanderarbeiter, ein paar lädierte Raufbolde, die aussahen wie ehemalige Soldaten, eine oder zwei Familien, eine Handvoll alter Leute und zwei tätowierte Punks, die hinten die Köpfe zusammensteckten.
Immer wieder wanderten die Augen des Jungen zu dem Mann auf der anderen Seite des Ganges, einem Vertretertypen mit öligem Haar in einem zerknautschten Anzug und ausgelatschten Slippern. Auch ein Schwarzer mit einer zerfledderten Bibel in der Hand und einer Sodaflasche zwischen den Beinen schien den Blick des Kleinen anzuziehen. Hinter dem Jungen saß eine alte Lady in einem Kleid aus pergamentartigem Stoff. Als sie sich vorbeugte, um ihn etwas zu fragen, schüttelte der Junge zaghaft den Kopf und antwortete vorsichtig.
Nein, Ma 'am.
Seine Worte wehten nach hinten wie ein Rauchwölkchen, und die Lady lehnte sich zurück und berührte mit blau geäderten Fingern die Kette an ihrer Brille. Sie schaute aus dem Fenster, und ihre Brillengläser blitzten und wurden dann dunkel, als die Straße sich durch ein Kiefernwäldchen schnitt, wo die Schatten wie grüne Pfützen unter den Ästen lagen. Das gleiche Licht erfüllte auch den Bus, und der Fahrer betrachtete den Mann in dem zerknautschten Anzug. Er war bleich und verschwitzt wie nach einem Kater, hatte ungewöhnlich kleine Augen und eine Rastlosigkeit, die an den Nerven des Fahrers scheuerte. Alle zwei Minuten setzte er sich anders hin, schlug ein Bein über das andere und nahm es wieder herunter, beugte sich vor, lehnte sich zurück. Seine Finger trommelten auf das Knie unter dem schlecht sitzenden Anzug, und er schluckte oft, während sein Blick zu dem Jungen wanderte, wieder weghuschte, zurückwanderte und auf ihm verharrte.
Der Fahrer war abgestumpft, aber in seinem Bus hielt er Ordnung. Betrunkenheit, schlechtes Benehmen und lautes Gerede tolerierte er nicht. So hatte seine Momma ihn vor fünfzig Jahren erzogen, und er sah keinen Grund, daran etwas zu ändern. Also hatte er ein Auge auf den Jungen und auf den angespannten, schwitzenden Mann mit dem eifrigen Blick. Er beobachtete, wie der Mann den Jungen beobachtete, und sah, wie er sich auf dem speckigen Sitz zurücklehnte, als das Messer zum Vorschein kam.
Der Junge tat es ganz beiläufig: Er zog es aus der Tasche und ließ die Klinge mit dem Daumen herausschnappen. Er hielt es einen Augenblick lang so, dass man es sehen konnte, und dann nahm er einen Apfel aus seinem Rucksack und zerschnitt ihn mit einer scharfen, sauberen Bewegung. Der Duft erhob sich über die fleckigen Sitze und den schmutzigen Boden. Noch durch den Dieselgestank roch der Fahrer das bittersüße Aroma. Der Junge warf einen kurzen Blick auf
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