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Das letzte Kind

Das letzte Kind

Titel: Das letzte Kind Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John Hart
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auch die kleinste Feder von der weichsten Stelle genügen, eine Stoppelfeder vielleicht, oder eine von der daunenweichen Unterseite der Schwinge bei der Schulter.
    Eigentlich war es egal.
    Magie war Magie.
    Je höher er stieg, desto stärker bogen sich die Äste unter ihm. Der Wind bewegte den Baum und den Jungen mit ihm. Wenn es böig wurde, presste der Junge das Gesicht an die Rinde; sein Herz klopfte, und seine Fingerknöchel wurden weiß. Die Kiefer war eine Königin unter den Bäumen, so hoch, dass selbst der Fluss darunter zusammenschrumpfte.
    Er näherte sich dem Wipfel. Aus dieser Nähe war das Nest so breit wie ein Esstisch, und es wog wahrscheinlich hundert Kilo. Es war Jahrzehnte alt, und es stank nach Moder und Scheiße und Kaninchenkadavern. Der Junge öffnete sich diesem Geruch und seiner Macht. Er verschob die Hand und stellte den Fuß auf einen Ast, der grau verwittert und ohne Rinde war. Unter ihm zog sich der Kiefernwald bis zu den fernen Bergen, und der Fluss wand sich schwarz und dunkel und glänzend wie Kohle dahin. Der Junge zog sich über den Rand des Nestes und sah die Küken, zwei Stück. Fahl und fleckig hockten sie in der Mulde. Sie rissen die splitterscharfen Schnäbel auf und bettelten um Futter, und der Junge hörte ein Geräusch wie von Bettlaken an der Leine bei aufkommendem Wind. Er riskierte einen Blick nach oben, und der Adler schoss aus dem makellosen Himmel herab. Einen Moment lang sah der Junge nur Federn, und dann schlugen die Schwingen herab, und die Klauen hoben sich.
    Der Vogel kreischte.
    Der Junge riss die Arme hoch, als die Klauen sich in ihn bohrten. Dann fiel er, und der Vogel — die Augen gelb und blitzend, die Klauen verhakt in seinem Hemd und seiner Haut —, der Vogel fiel mit ihm.
    Um drei Uhr siebenundvierzig rollte ein Bus auf den Parkplatz vor der kleinen Tankstelle. Diesmal fuhr er nach Norden, und es war ein anderer Bus und ein anderer Fahrer. Die Tür öffnete sich klappernd, und eine Handvoll rheumatischer Leute stieg schlurfend aus. Der Fahrer war ein magerer Hispanic, fünfundzwanzig und müde aussehend. Er warf kaum einen Blick auf den dürren Jungen, der von der Bank aufstand und humpelnd zum Bus kam. Er nahm weder die zerrissenen Kleider wahr noch den Gesichtsausdruck, der an Verzweiflung grenzte. Und wenn da Blut an der Hand war, die ihm das Ticket reichte, schien es nicht Sache des Fahrers zu sein, dazu eine Bemerkung zu machen.
    Der Junge ließ das Ticket los. Er zog sich die Stufen hinauf und versuchte die Fetzen seines Hemdes zusammenzuhalten. Sein Rucksack war schwer, platzte fast aus den Nähten, die an der Unterseite rot gefärbt waren. Ein Geruch hing an dem Jungen, ein Geruch von Schlamm und Fluss und etwas Rohem, aber auch das ging den Fahrer nichts an. Der Junge schob sich durch den halbdunklen Bus. Einmal taumelte er gegen eine Rückenlehne, dann war er ganz hinten und setzte sich auf einen Platz in der Ecke, wo er allein war. Er drückte seinen Rucksack an die Brust und zog die Füße auf den Sitz. Tiefe Löcher klafften in seiner Haut, und sein Hals war aufgerissen, aber niemand sah ihn an, niemanden kümmerte es. Er umklammerte den Rucksack fester und spürte die Wärme, die noch da war, den zerschmetterten Körper, der sich anfühlte wie ein Sack mit zerbrochenen Zweigen. Er sah die kleinen, flaumigen Küken vor sich, allein im Nest, allein und hungrig.
    Der Junge wiegte sich in der Dunkelheit.
    Er wiegte sich in der Dunkelheit und weinte bittere Tränen.

EINS
    J ohnny hatte es bald gelernt. Wenn jemand ihn fragte, warum er so anders sei, warum er sich so still verhalte und warum seine Augen das Licht zu verschlucken schienen, dann war das seine Antwort. Er hatte bald gelernt, dass es keinen sicheren Ort gab, nicht im Garten und nicht auf dem Schulhof, nicht auf der Veranda und nicht auf der stillen Straße am Rand der Stadt. Keinen sicheren Ort und niemanden, der einen beschützte.
    Die Kindheit war eine Illusion.
    Er war seit einer Stunde auf und wartete darauf, dass die Nachtgeräusche schwanden und die Sonne sich so weit heraufschob, dass man es Morgen nennen konnte. Es war Montag, und es war noch dunkel, aber Johnny schlief wenig. Als er aufwachte, waren die Fenster pechschwarz. Zweimal rüttelte er jede Nacht an den Riegeln und schaute hinaus auf die leere Straße und die ungepflasterte Einfahrt, die kalkweiß aussah, wenn der Mond aufging. Er sah nach seiner Mom, außer wenn Ken im Hause war. Ken war jähzornig, und er trug

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