Das letzte Opfer (German Edition)
Mund, biss sich im Schmerz auf die Zunge, fühlte das Blut. Der zweite Tritt traf sie in die Rippen und nahm ihr den Atem.
Sie rollte sich zusammen wie ein Igel, hob schützend einen Arm über den Kopf, viel half es nicht. Als er endlich von ihr abließ, musste sie nicht mehr um ihr Leben spielen, hätte auch nicht mehr spielen können. Sie hatte das Bewusstsein verloren. Aber sie kam noch einmal zu sich, in einer Hölle aus Schmerz, unfähig, sich aus eigener Kraft zu bewegen, allein mit dem Tod.
Sie versuchte den grausamen Gestank zu ignorieren, so gut es eben ging, weil er ihr die letzte Hoffnung genommen hätte. In ihrer Nähe lag noch eine Frau, und die war so tot, wie sie es niemals hätte spielen können.
Erster Teil
Karen
Die Schauspielerin
Schauspielerin wollte sie werden, seit sie zum ersten Mal auf einer Bühne gestanden hatte. Da war sie fünf, und es war keine richtige Bühne, nur ein mit Tannengrün geschmücktes Podest, aber ein ziemlich großes. Bei einer Weihnachtsfeier im Kindergarten war sie die Maria. Der Pfarrer saß dabei und fand das Krippenspiel so gelungen, dass er es unbedingt noch einmal aufführen lassen wollte. Die Wiederholung fand vor dem Altar in der Kirche statt und vor vollen Bänken. Die Leute waren zu Tränen gerührt, ihre Eltern ebenso wie alle anderen.
Stolz waren Christa und Karlheinz Dierden beim ersten großen Auftritt ihrer kleinen Tochter. So ein kluges Kind, das sagten alle, begann mit vier Jahren zu lesen. Im Kindergarten bezeichneten sie es als außergewöhnlich, schaute ihrem Bruder ein paar Mal bei den Schulaufgaben zu und merkte sich jedes Wort. Dabei war ihr Bruder zehn Jahre älter als sie und ging zu der Zeit aufs Gymnasium, allerdings nicht mehr lange. Norbert war schon einmal sitzen geblieben. Und als es dann wieder so aussah, dass er die Versetzung nicht schaffen würde, schickte Christa Dierden ihn lieber zurück auf die Hauptschule und setzte ihre gesamte Hoffnung auf die kleine Tochter. Alle prophezeiten Karen eine großartige Zukunft. Und ihre Mutter stellte sich vor, dass dieses Kind all das erreichte, wozu es bei ihr selbst nicht gelangt hatte. Abitur, Studium und ein Doktortitel. Die erste Akademikerin in der Familie: Frau Doktor Karen Dierden.
Christa war gelernte Friseuse, Karlheinz im Baugewerbe tätig. Er war viel auf Montage, einmal sogar für ein halbes Jahr in einem arabischen Emirat. Normalerweise erfuhr er nur übers Telefon, was die Kinder so trieben. Aber zu Weihnachten war er natürlich daheim, konnte sich das Krippenspiel mit eigenen Augen anschauen und feststellen, dass seine Frau nicht übertrieb und Karen wirklich beachtliche Leistungen erbrachte.
Eine Menge Text für ein fünfjähriges Mädchen. Sie sprach bei der zweiten Aufführung in der Kirche nicht nur ihre Rolle, auch den Josef, weil der zu schüchtern war und sich vor vollen Bänken nicht traute, den Mund aufzumachen. Sie machte das sehr geschickt, drehte das Gesicht zur Seite und senkte den Kopf tiefer über die Krippe, damit niemand sah, dass sie die Lippen bewegte. Sogar ihre Tonlage veränderte sie ein wenig. Und als der Engel des Herrn, der die Hirten zur Krippe führen sollte, vergaß, was er zu sagen hatte, half sie ihm auch noch aus der Klemme.
Es fiel natürlich trotz aller Mühe auf, die Leute applaudierten minutenlang. Der Pfarrer lobte sie. Ihr Vater sagte auf dem Heimweg mindestens fünfmal: «Das hast du wirklich sehr gut gemacht.»
Von da an wollte sie es eben nur noch sehr gut machen. An Norberts Schulaufgaben war sie nicht länger interessiert. Ihre Mutter hatte gehofft, dass sie ihre Aufmerksamkeit auch einmal auf Zahlen richtete und mindestens bis fünfzig zählen könne, wenn sie eingeschult wurde. Das war leider nicht der Fall.
Andere in ihrem Alter tobten auf Spielplätzen oder beschäftigten sich mit Puppen. Sie trug zwei Küchenstühle hinaus auf den Balkon der elterlichen Mietwohnung. Damals lebten sie noch in Köln-Porz, Platz für mehr als zwei Stühle war auf dem Balkon nicht. Auf einen setzte sie ihren Teddy, auf den anderen einen Plüschhasen. Dann zog sie ihre Puppe aus, hüllte sie in ein Handtuch und legte sie in den Blumenkübel, in dem während des Sommers Geranien geblüht hatten. Im Winter war der Kübel leer. Sie legte sich eine Bettdecke um die Schultern und spielte das Stück in allen nur denkbaren Variationen. Glücklicherweise im siebten Stock, sodass kaum jemand Notiz davon nahm. Trotzdem sagte ihre Mutter alle paar Minuten:
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