Das letzte Opfer (German Edition)
wollen, hatte es ja auch vorher kaum gefahren. Nun gehörte der Benz offiziell Christa. Sie putzte ihn zweimal die Woche, hatte die Wagenpapiere und den Schlüssel stets dabei, aber sie benutzte ihn nur im äußersten Notfall.
Norbert fragte natürlich, was sie in Christas Schlafzimmer suchte. Und sie erzählte ihm, Li habe ein Telegramm erhalten, ihr Vater sei plötzlich erkrankt, sie müsse nach China. Ihr Flieger ginge früh am nächsten Morgen ab Frankfurt, deshalb wolle Li schon heute Abend mit dem Zug dorthin fahren. Dann flehte sie ihn an, er solle sie fahren, es sei sehr wichtig, sie wolle sich nur von Li verabschieden.
Norbert glaubte ihr nicht einmal die Hälfte, bezweifelte, dass Li überhaupt noch einen Vater hatte. Auch wollte er zuerst seine Zahnschmerzen loswerden und versprach ihr, sie abends zum Bahnhof nach Köln zu fahren. Für einen Abschied reiche das, meinte er, ging ins Bad, um sich die Zähne zu putzen und noch rasch zu duschen. Seinen Schlüsselbund hatte er wie üblich auf der Garderobe abgelegt. Und der Ford Taunus, in dem sie so oft geübt hatte, stand direkt vor der Haustür.
Es war nur ein Griff – kurz nach drei Uhr nachmittags. Auf die Uhr schaute sie nicht. Das tat Christa am frühen Abend. Die Polizei kam um zwanzig Minuten nach sieben. Christa war gerade erst wieder mit Jasmin ins Haus gekommen, hatte die Tür kaum hinter sich geschlossen und sie noch gar nicht vermisst. Und dann standen ihr zwei Uniformierte gegenüber, fragten nach Herrn Norbert Dierden.
Im ersten Moment dachte Christa, Norbert hätte einen Unfall gehabt. Dass ihr Benz nicht auf dem Hof stand, war ihr auch noch nicht aufgefallen. Norbert wusste, wo Christa den Zweitschlüssel aufbewahrte, hatte nicht lange danach suchen müssen. Nachdem Christa erklärt hatte, sie sei Norberts Mutter, bekam sie Auskunft.
Ein toter Radfahrer auf einer kurvigen Straße im Bergischen Land. Und kein Zweifel, dass Karen den Mann überfahren hatte. Es gab einen Zeugen, der unmittelbar hinter dem Ford Taunus gewesen war, als es passierte, gegen halb sechs. Statt anzuhalten, war sie noch vier Kilometer weiter gerast, hatte dann endgültig die Kontrolle über den Wagen verloren. Dreimal hatte der Ford Taunus sich überschlagen, ehe er in einem Kartoffelacker liegen blieb. Wie durch ein Wunder war sie fast unverletzt. Der spezielle Fahrersitz mit stabiler Nackenstütze und Hosenträgergurt hatte das Schlimmste verhindert. Mit ein paar Prellungen, einer Gehirnerschütterung und einem schweren Schock hatte man sie ins Krankenhaus nach Bergisch Gladbach gebracht.
Als Sarah gegen halb neun aus Köln zurückkam, sie hatte nach Feierabend mit einer Kollegin noch irgendwo einen Kaffee getrunken, saß Christa mit Jasmin in der Küche und weinte sich die Augen wund. Sie fuhren sofort nach Bergisch Gladbach. Während der Fahrt weinte Christa ohne Unterbrechung. Sie begriff es nicht, fragte immer wieder: «Was soll denn jetzt noch aus ihr werden?» Mit sechzehn Mutter, mit achtzehn eine Mörderin. Schlimmer könne es nicht mehr kommen, dachte ihre Mutter damals. Aber für jedes Entsetzen gibt es eine Steigerung.
Elisabeth, Angela, Silvia und Marion
Es gab eine Liste mit den Namen junger Frauen. Der Mann, der sie führte, hieß Thomas Scheib. Und die Frauen auf seiner Liste waren tot, ermordet worden, oder sie galten als abgängig, wie es im Polizeijargon heißt. Thomas Scheib war Polizist. Im September 1990, als Karens Leben die zweite dramatische Wende erfuhr, war er frisch verheiratet. Seine Frau Claudia war zwei Jahre jünger als er, hatte gerade ihr Studium abgeschlossen, Psychologie und Soziologie, trat anschließend eine Stelle in einer Familienberatung an. Er arbeitete in der zentralen Vermisstenstelle des Bundeskriminalamtes in Wiesbaden. Und dort sollte er zwei Jahre später die Spur eines Mörders aufnehmen, der keine Spuren hinterließ.
Es gab Hypothesen, Spekulationen und Schlussfolgerungen. Aber es gab lange Zeit keinen Beweis, dass er tatsächlich existierte, dieser Mörder, der jedes zweite Jahr im September eine junge Frau mit ihren Träumen und Sehnsüchten köderte, sie tötete und so verschwinden ließ, dass sie nicht wieder auftauchte – bis auf drei Ausnahmen, doch die konnten durchaus von verschiedenen Tätern umgebracht worden sein. Auch in den Vermisstenfällen gab es Alternativen. Nur für Thomas Scheib war es in allen Fällen derselbe Mörder.
Seine Theorie rief bei den zuständigen Ermittlern und Kollegen im BKA
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