Das letzte Opfer (German Edition)
nicht mehr jeden Tag bei seiner geliebten Oma sein konnte.
Den unsinnigen Gedanken, Norbert könne ihr etwas antun wollen, hatte Karlheinz längst wieder aufgegeben. Und natürlich zog er mit nach Sindorf. Er hätte sie nie allein gelassen unter Christas Fuchtel. Es war für ihn auch kein Problem, nach Köln zu kommen. Er besaß nicht nur sein Wohnmobil, sondern auch einen alten Ford Taunus, den er vor der Schrottpresse gerettet und wieder so hergerichtet hatte, dass er ihn problemlos durch den TÜV brachte. Und bereuen musste Norbert den Umzug nicht.
In Sindorf verliebte er sich im Frühjahr 1989 in Sarah, deren Familie nur zwei Häuser weiter wohnte. Schon ein halbes Jahr später heirateten sie. Sarah war Angestellte bei der Stadtsparkasse in Köln, auch Mitte zwanzig, ein bisschen pummelig, aber überaus liebenswert und tüchtig.
Sarah und ihre Eltern erfuhren als einzige Außenstehende, wer Jasmin geboren hatte. In der restlichen Nachbarschaft hielt man das Kind für das Nesthäkchen der Familie. Man fand es rührend und niedlich, nach den beiden Großen noch so etwas Kleines. Christa widersprach nie, wies sie an, das ebenfalls zu unterlassen, und sorgte dafür, dass es vorerst bei einem Kind blieb.
Karens Freiheiten wurden rigoros gestrichen. Sie durfte das nächstgelegene Gymnasium besuchen, aber dass sie einmal nachmittags mit einer Klassenkameradin für eine wichtige Arbeit übte, kam überhaupt nicht infrage. Christa argwöhnte immer, es könne sich in Wahrheit nur um einen Kameraden handeln.
«Du hast mich einmal belogen, Mädchen», sagte Christa jedes Mal, wenn sie um einen freien Nachmittag bettelte. Wenn es ernst wurde, nannte Christa sie immer Mädchen. «Und das eine Mal reicht mir fürs ganze Leben. So ein Kind ist schließlich kein Fleck im Kleid, den man auswaschen kann. Das hat man zwanzig Jahre und länger am Bein. Und so lange ich nicht weiß, wer es mir ans Bein gebunden hat, ist hier Schluss mit lustig.»
Ihr Einverständnis zu einer viertägigen Kursfahrt in die Schweiz gab Christa erst, als ein Lehrer vorstellig wurde und anbot, die Kosten aus einem Sozialfonds vorzustrecken, falls es daran scheitern sollte. Dass sie einen Ausflug mit der Schule nicht bezahlen könne, wollte Christa sich nicht nachsagen lassen. Karen durfte mit, wurde aber nach der Rückkehr einem inquisitorischen Verhör unterzogen und zum Gynäkologen geschleift. Bei der Untersuchung stand Christa neben dem Stuhl und sagte: «Das war auch dein Glück.» Und als am Gymnasium eine Theatergruppe zusammengestellt wurde, natürlich auf ihr Betreiben, entschied Christa unwiderruflich: «Nein! Theater hatten wir schon genug.»
Ihr Vater vertrat noch Jahre später die Ansicht, dass sich nur wegen dieser drastischen Erziehungsmaßnahmen am 14. September 1990 die große Katastrophe in ihrem Leben ereignet habe. Doch das war ein Irrtum, mit Christas Strenge hatte das nichts zu tun. Ihre Mutter war damals gar nicht in der Lage, ihre Verbote auch durchzusetzen. Sie hatte andere Sorgen.
Anfang 1990 reichte Karlheinz die Scheidung ein. Nach all den Jahren meinte er plötzlich, sie hätten doch nie eine richtige Ehe geführt und seien beide noch nicht zu alt für einen neuen Anfang. Für Christa war es ein herber Schlag, über den sie kein Sterbenswörtchen verlauten ließ. Sie legte den Ehering nicht ab, hielt wacker daran fest: «Jung gefreit hat nie gereut.» Und da Karlheinz immer noch regelmäßig anrief, zu Weihnachten, Ostern und Geburtstagen auch zu Besuch kam, fiel es niemandem auf. Ihren Kindern musste sie es natürlich sagen, als die Rechnung vom Anwalt ins Haus flatterte.
Sarah meinte daraufhin zu Norbert: «Jetzt hast du auch offiziell alles am Hals, da darfst du auch bestimmen, wo es langgeht.»
Beinahe jeden Samstag drängte Sarah, Karen mitzunehmen in die Kölner Diskothek an der Zülpicher Straße, die Norbert immer noch regelmäßig besuchte, nun natürlich mit seiner Frau.
«Ihr könnt sie doch nicht hier festbinden, bis sie verschimmelt», sagte Sarah häufig. «Sie wird bald achtzehn, da kann sie ohnehin allein entscheiden, wie viel Zeit sie wo und mit wem verbringt. Und was soll passieren? Ich bin dabei, Norbert ist dabei. Wir passen schon auf, dass sie nicht wieder auf irgendeinen Windhund hereinfällt.»
Dabei wollte sie zu Anfang gar nicht mit, fühlte sich im Gedränge nicht wohl, zuckte schon zusammen, wenn ihr jemand von hinten zu nahe kam, und schob jedes Mal eine wichtige Schularbeit vor, wenn
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