Das letzte Relikt
noch spürte er die Kraft, hörte das Knistern der Hitze. Im Raum befand sich eine lebendige Präsenz, und in stummem Entsetzen fragte Carter sich, was sie zufriedenstellen würde.
Dann wusste er, selbst mit geschlossenen Augen, dass sie verschwunden war. Der große Raum war wieder dunkel, der Wind und das Knistern waren erstorben. Alles war ruhig.
Er schlug die Augen auf und wandte sich wieder zum Springbrunnen. Die antike Statue stand allein und unschuldig dort, nur vom blassen Mondlicht angestrahlt, das durch das leere Oberlicht des Wintergartens fiel.
Die Schriftrolle war verschwunden. Hatte sie sich in Luft aufgelöst? War sie wie eine Flamme erloschen? Durch das offene Dach davongeweht? Nirgendwo entdeckte Carter eine Spur von ihr. Er hielt den Atem an und sagte: »Ezra, bist du verletzt?«
Er bekam keine Antwort.
Taumelnd kam er auf die Beine, stieg über den Rucksack und ging zu Ezra. Das schwarze Barett hatte sich über das Gesicht geschoben, und als Carter es anhob, stellte er fest, dass er die Augen geöffnet hatte, aber der Blick ziellos war. »Kannst du mich hören?«, fragte er, und dieses Mal nickte Ezra schwach. »Ich bringe dich hier raus. Kannst du aufstehen?«
Wieder keine Antwort, aber als er seinen Arm unter Ezras Schulter schob, schaffte er es, ihn auf die Füße zu ziehen.
»Okay, und jetzt ein Schritt nach dem anderen.« Er leuchtete mit seiner Taschenlampe in die Richtung, aus der sie gekommen waren, und während Ezra sich schwankend gegen ihn lehnte, entfernten sie sich langsam vom Springbrunnen. Mit der Lampe leuchtete Carter ständig hin und her, um sicherzustellen, dass sie nicht über irgendeinen verrotteten Balken oder zerbrochene Dielen stolperten. »Wir lassen es langsam angehen«, erklärte er Ezra. »Ganz langsam und gemütlich.«
Sie hatten es fast aus dem Raum geschafft, als der Strahl seiner Taschenlampe etwas erfasste, das wie die anderen Trophäen an einem der Holzbalken befestigt war. Er musste es beim Eintreten völlig übersehen haben. Carter zerrte Ezra mit sich zu dem Fund und sah, dass es ein Stück Satinstoff war, das im Licht glänzte. Satinstoff am Kragen eines Pyjamas mit Leopardenmuster.
Genau wie bei Beths Lieblingspyjama. Demjenigen, den sie an dem Abend getragen hatte, als ihre Schlafzimmertür blockiert gewesen war und das Fenster zur Feuerleiter weit offen gestanden hatte.
»O mein Gott«, sagte er leise, und Ezra stieß einen Schmerzenslaut aus. Ein Blutstropfen lief ihm aus einem Mundwinkel.
Carter stopfte die Taschenlampe in seinen Gürtel und nahm dann das Kleidungsstück vom Nagel. Er hielt es vor sein Gesicht. Es verströmte immer noch ihren Duft. »O mein Gott«, murmelte er noch einmal und betete, dass es, anders als die anderen Trophäen, ein Symbol für einen unerfüllten Wunsch war und kein Erinnerungsstück.
38 . Kapitel
»Ich bin froh, dass du die Party früher verlassen hast«, sagte Abbie, während sie den Wagen auf die Ausfahrt nach Hudson lenkte. »Je eher wir heute Abend ins Bett kommen, desto früher können wir uns morgen an die Arbeit machen.«
Beth starrte aus dem Fenster auf die schwarzen Bäume und Büsche, die jetzt die zweispurige Straße säumten. Sie hatte Mühe, sich auf das zu konzentrieren, was ihre Freundin sagte. Egal, wie sehr sie dagegen ankämpfte, ihre Gedanken kehrten immer wieder zu denselben Punkten zurück. Arius’ Anblick, als er bei der Party auftauchte, den kleinen Blutfleck, den sie selbst jetzt in ihrer Unterhose zu spüren meinte. Wenn sie an die letzten paar Wochen zurückdachte, sah sie nur eine immer höher werdende Flut aus schlechten Nachrichten, Problemen und sogar Tod. Einen Kondolenzbrief an Joes Mutter zu schreiben, gehörte zu den schmerzhaftesten Aufgaben, vor die sie je gestellt worden war.
»Wir werden natürlich auch jede Menge Spaß haben«, sagte Abbie. »In der richtigen Gesellschaft kann es total witzig sein, Vorhänge aufzuhängen.«
»Ich bin sicher, dass es lustig wird«, sagte Beth pflichtschuldig.
»Für diese Vorstellung bekommst du aber nicht gerade einen Oscar«, witzelte Abbie.
Lächelnd wandte Beth sich ihrer Freundin zu. »Tut mir leid, aber die Party hat mich völlig geschafft. Ich muss nur mal eine Nacht richtig gut schlafen. Morgen früh kann ich es vermutlich kaum noch abwarten, loszulegen.«
Abbie tätschelte Beths Handrücken. »Schlaf ruhig, so lange du willst. Selbst Ben, der das Ganze hasst, musste zugeben, dass er da oben wie ein Baby schläft.« Sie wollte
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