Schubumkehr
2.
Rein sagt die Mutter, der Sohn will das nicht, er kann es nicht mehr hören, wie sie Rein sagt, so emphatisch, aber es klingt falsch und gekünstelt, warum sagt sie nicht so wie früher »Kasserolle«? Sie verkleidet sich mit diesem Wort, mit solchen Wörtern, so wie sie sich mit ihrer blauen Latzhose verkleidet, und mit ihrem hennarot gefärbten Haar. War ihr Haar nicht schon grau geworden? Jetzt ist es rot, kurz geschnitten und struppig. Was hat die Mutter angerichtet? Wieder viel zu viel auf diesem groben, pseudo-bäuerlichen, von einem schwedischen Designer entworfenen Holztisch, der zu massiv ist, um sich unter dem, was ihm aufgetragen wurde, sprichwörtlich biegen zu können. Es dampft, es trieft in Töpfen, Schüsseln, Kasserolle, Rein. Greif zu! Der Sohn will gar nicht hinschauen, er sieht nur den Dampf, durch den Dampf hindurch das glänzende Gesicht der Mutter, er kann ihre Sätze nicht mehr hören, daß dieses Tier hier in der Rein ein glückliches gewesen sei, weil es artgerecht gehalten, ausschließlich natürlich gefüttert worden sei, und das Gemüse und der Salat selbstverständlich alles eigene Ernte, ohne Kunstdünger, ungespritzt, biologisch, der Sohn bläst die Wangen auf, ganz fest, wie ein Trompetenspieler, nun sieht er sich selbst, sein Gesicht mit den beiden wie kleine Luftballons geblähten Wangen – so jung ist er gar nicht, wie er sich gerne sehen würde, er hat etwas Aufgedunsenes, Schwammiges, Verbrauchtes, auch er sieht verkleidet aus, die letzten Jahre haben ihn verkleidet, so entfernt ist er seinem Selbstbild, daß er einen Moment lang glaubt, nicht mehr zu wissen, wie er heißt. Greif zu, Ja greif! Lang zu! Faß und pack! Rein! Immer stärker dampft es vor seinen Augen, auf diesem Tisch, der wahrscheinlich »Lars« oder »Jan-Arge« heißt, auf seinem Teller, die Mutter beginnt jetzt mit animierenden Beiß-, Kau- und Schluckbewegungen zu essen, mit dem seligen Gesichtsausdruck einer gläubigen Anhängerin der Natur-Religion, die nun Das Gesunde empfängt, nämlich chemiefreie Vitamine, Mineralien, Spurenelemente, Ballaststoffe, Eiweiß, Kohlehydrate, kaltgepreßte Öle, Fettsäuren, selbstverständlich alles rechtsdrehend, er konnte den Satz Das schmeckt doch ganz anders als das Gekaufte nicht hören, aber der Satz war da, an ihren Lippen, nun öffnete er seine Lippen, fauchend entströmt die im Mund gestaute Luft, er springt auf, reißt den Tisch hoch, die Teller, Töpfe, Schüsseln und die »Rein« rutschen den Tisch hinunter, auf die Mutter zu, auf die Mutter drauf, die aufspringt, er stemmt den Tisch noch höher, kippt ihn auf die Mutter, kippt ihn wie einen Sargdeckel auf die nun auf dem Boden liegende Mutter. Sie schreit oder sie schreit nicht, sie müßte doch schreien, aber es ist ganz still, alles geschieht lautlos, vielleicht schreit sie nicht, weil sie so geschockt ist, vielleicht schreit sie doch, und er hört es nicht, weil er taub ist vor Haß, seitlich vom gekippten Tisch sieht er ihren Kopf, ihren offenen Mund, mit beiden Händen umfaßt er eines der aufragenden Tischbeine, reißt den Tisch zur Seite, stürzt sich auf die Mutter, er umfaßt mit beiden Händen ihren Hals, würgt sie und reißt gleichzeitig ununterbrochen ihren Kopf hoch und stößt ihn zu Boden, nicht zu Boden: auf die Kuhhaut, die da liegt, als eine Art Teppich, eine echte gegerbte Kuhhaut, das war unsere erste eigene Kuh, und während er immer wieder den Kopf der Mutter hochreißt und wieder auf diesen Kuhhautteppich schlägt, sagt er im selben Rhythmus dieser Auf-und-ab-Bewegung Ver-zeih-ver-zeih-ver-zeih, aber es ist nichts zu hören, fast nichts, nur ein raschelndes Geräusch, es klingt, als würde sich einer unter einem dicken erstickenden Federbett freistrampeln, sag-ver-zeih-ver-zeih, das war nicht zu hören, das schwang nur irgendwie mit in diesem Freistrampeln, nein, nein, es ist nichts, es ist gar nichts passiert.
3.
Am Abend des 29. Jänner 1989 war Oberlehrer Vinzenz Trisko zum ersten Mal auf die Natur und die Wunder, die sie vollbrachte, nicht gut zu sprechen. An jenem Abend wurde in Komprechts, einer Marktgemeinde in Niederösterreich knapp vor der tschechischen Grenze, sein Stück »Steinreich« aufgeführt, die dramatisierte Fassung einer bekannten lokalen Legende, die er selbst mit der von ihm gegründeten Laienspielgruppe des Ortes einstudiert hatte.
Die Mehrzweckhalle des Ortes war ausverkauft, was nicht anders zu erwarten gewesen war, aber Triskos Nervosität noch steigerte.
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