Das letzte Relikt
dass du mich schreien siehst, während meine Haare am Kopf kleben und meine Beine in der Luft hängen.« Aber er wusste, worum es wirklich ging. Er machte alle wahnsinnig.
»Da bist du ja«, hört er jemanden rufen, und Abbie stürmte herein. »Ich bin sofort gekommen, als ich deine Nachricht erhalten habe.« Sie ließ sich auf den Stuhl neben Carter fallen und legte eine Hand auf sein Knie. »Irgendwelche Neuigkeiten?« Mit der anderen Hand öffnete sie den obersten Knopf ihrer Bluse und lockerte den Kragen. »Heiß ist es hier.«
»Allerdings«, sagte er.
»Puh.« Sie ließ den Blick durch den kleinen nichtssagenden Raum schweifen.
»Danke, dass du gekommen bist«, sagte er pflichtschuldig. Er wusste, wie schwer es für sie sein musste. Ihr letzter Krankenhausaufenthalt lag noch gar nicht lange zurück, sie hatte eine Fehlgeburt gehabt.
»Ich hatte nicht erwartet, dass es so schnell gehen würde«, sagte sie.
»Damit hat niemand gerechnet.«
»Ich hatte gedacht, wir hätten noch eine Woche oder so. Ben wäre auch gekommen, aber er ist die ganze Woche in Boston.«
»Geschäftlich?«
»Nein, er hat da eine Freundin.«
Als er weder lachte noch irgendeine andere Reaktion zeigte, sagte sie: »Das war ein Witz, Carter. Kein besonders guter, aber trotzdem ein Witz.«
»Tut mir leid. Ich fürchte, ich bin etwas abgelenkt.«
»Dazu hast du jedes Recht. Wie lange bist du schon hier?«
Carter schaute auf die Uhr über dem Fernseher. »Etwa vier Stunden.«
Abbie nickte.
Jeden Augenblick konnte es so weit sein. Das war es, was sie dachte. Das war es, was er seit vier Stunden dachte. Jeden Augenblick konnte er die Antwort erhalten. Aber wollte er es auch?
Abbie tat, als würde sie sich den landesweiten Wetterbericht ansehen. Carter konnte sie kaum ansehen, ohne an die grauenvolle Nacht auf dem Land erinnert zu werden. Doch eines war ihm zunehmend klarer geworden: Er war der Einzige, der sich überhaupt erinnerte. Er hatte festgestellt, dass Abbie nichts mehr von dem wusste, was Arius mit ihr angestellt hatte. Wenn jemals Bilder des Überfalls in ihrem Bewusstsein aufflackerten, wurden sie als nichts weiter als ein Albtraum abgetan, den sie einmal gehabt hatte.
Genauso war es bei Beth.
Gewiss, sie erinnerte sich daran, aus dem Badezimmerfenster geklettert, durch den Obsthain gerannt und aus Arius’ Umklammerung vom Heuboden gefallen zu sein, aber sie erinnerte sich an nichts, was ihr in jener entscheidenden Nacht in New York vor Monaten zugestoßen war. Als Carter behutsam versucht hatte, es ihr zu erzählen, hatte sie zuerst überrascht und schließlich mit wachsendem Entsetzen reagiert. Schließlich hatte sie ihm eine Hand auf den Mund gelegt und gesagt: »Hör auf! Ich werde ein Kind bekommen,
unser
Kind, und ich habe schon genug Sorgen. Rede mir nichts ein, das es noch schwerer machen würde.«
Also hatte er seine Sorgen Dr. Weston vorgetragen. Dieser hatte ihm die Laborergebnisse und Ultraschallbilder gezeigt und ihm geraten, sich zu entspannen. »Aber Sie haben doch selbst erzählt, dass Beth unmöglich von mir schwanger werden kann.«
»Ich bin nicht unfehlbar«, hatte Dr. Weston gesagt. »Es sind schon merkwürdigere Dinge geschehen.«
Ach, tatsächlich?
»Mr Cox?«, sagte die Schwester und steckte erneut den Kopf durch die Tür. Carter sagte nichts, bis Abbie schließlich an seiner statt antwortete. »Ja?«
»Der Doktor kommt in einer Minute, um mit Ihnen zu reden.«
Ehe er sie noch irgendetwas fragen konnte, hatte sie sich schon wieder zurückgezogen. Was hatte das zu bedeuten:
Der Doktor kommt, um mit Ihnen zu reden?
Er sah Abbie an, und selbst sie sah ein wenig besorgt aus.
»Glaubst du, dass irgendetwas nicht stimmt?«, fragte Carter sie.
Wenig überzeugend schüttelte Abbie den Kopf. »Nein. Wie kommst du darauf?«
»Der Klang ihrer Stimme. Irgendwie hörte sie sich unehrlich an.«
»Ich bin sicher, dass sie viel zu tun hat.«
»Nein, in ihrer Stimme schwang etwas mit«, beharrte Carter.
Abbie tat, als würde sie etwas tief unten in ihrer Tasche suchen, und Carter stand auf und ging zum Fenster. Sie befanden sich im zehnten Stock, und als er hinausblickte auf die Lichter der Stadt, stellte er fest, dass das alte Sanatorium auf der anderen Straßenseite verschwunden war. An seiner Stelle ragte das stählerne Gerüst des Neubaus der Villager-Genossenschaft in die Höhe. Er fragte sich, was Ezra, der sich immer noch in einer Privatklinik im Norden »erholte«, davon halten würde. Oder
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