Das letzte Relikt
ihm die Arbeit zu erleichtern.
Nicht, dass es auch nur andeutungsweise einfach werden würde.
Was er da in den Händen hielt, hatte er aus den Archiven der Hebrew University herausgeschmuggelt, wo es darauf gewartet hatte, zusammengesetzt und schließlich erkannt zu werden. Es handelte sich um die Fragmente, Streifen und Fetzen einer Schriftrolle, die zweifelsohne mehr als zweitausend Jahre alt war. Die Pergamentfetzen waren teils miteinander verbunden, teils lose, und zusammengesetzt würden sie den meistgesuchten und unglaublichsten Fund der gesamten Bibelforschung ergeben. Davon war Ezra überzeugt. Andere Schriftrollen vom Toten Meer, die bereits zusammengefügt, übersetzt und gelesen worden waren, verwiesen auf diese Schrift. Es gab sogar eine äthiopische Übersetzung davon aus dem vierzehnten Jahrhundert. Doch diese Version war der Einschätzung der meisten Forscher zufolge von den Kopisten der Kirche über die Jahrhunderte stark überarbeitet worden. Entsetzt über den schonungslos okkulten und zu Spekulationen neigenden ursprünglich aramäischen Text, hatten diese ihre eigenen Urteile mit einfließen lassen und alles ausgelassen, was ihren Unmut erregt hatte. Nein, bis jetzt war noch nie ein Mensch in der Lage gewesen, das Original Stück für Stück zusammenzusetzen, zu entziffern und das zu lesen, was seit Jahrtausenden als das verschollene Buch Henoch galt.
Andererseits hatte auch nie jemand unter uralten Schriftrollen von alltäglichen Dokumenten danach gesucht, zwischen Rechnungen, Eheverträgen und Geschäftskorrespondenzen. Dort hatte Ezra sie gefunden. War es mehr Glück als Verstand gewesen?, fragte er sich oft. Oder steckte mehr dahinter? Denn zwischen all dem Schrott, den er eigentlich hatte katalogisieren sollen, war er auf dieses unschätzbare Juwel gestoßen. War es vollkommen übersehen worden, verloren in diesem Durcheinander aus eher banalen Schriften? Allein die Geniza der Ben-Esra-Synagoge in Kairo enthielt zum Beispiel mehr als fünfzehntausend Dokumente aus dem elften bis zum dreizehnten Jahrhundert, von denen viele noch gesichtet werden mussten. Mittlerweile vermutete Ezra, dass die Rolle möglicherweise vor Jahrzehnten von einem seiner Vorgänger dort versteckt worden war, der, aus welchen Grund auch immer, nicht mehr in der Lage gewesen war, sein Verbrechen zu Ende zu bringen oder seine Entdeckung herauszuposaunen. In der Schriftrollenforschung waren solche Betrügereien weit verbreitet. Vielleicht war das auch der Grund, weshalb Ezra sich dort so zu Hause fühlte.
Er zog ein Paar neu erstandener OP -Handschuhe an und entrollte vorsichtig das größte Segment der Rolle, das immer noch intakt war. Doch selbst dieses war weniger als sechs Zentimeter lang und nur zwei bis vier Zentimeter breit. Das blassgelbe Pergament, das jetzt flach auf dem Zeichentisch lag, hatte die Farbe und Beschaffenheit eines Herbstblatts, das vor langer Zeit zwischen den Seiten eines Buches gepresst worden war. Bei den hauchdünnen Fasern handelte es sich vermutlich um Papyrus, wie bei den meisten Schriftrollen, doch Ezra war sich nicht vollkommen sicher. Einige der frühesten Funde hatten aus Tierhäuten bestanden, abgeschabt, gehämmert und gedehnt, bis sie beinahe ebenso glatt und fein gewesen waren wie irgendein heute produziertes Papier. Wenn er Israel nicht wie ein Dieb in der Nacht so überstürzt hätte verlassen müssen, hätte er eine Möglichkeit gefunden, die Laboreinrichtungen der Hebrew University oder des Instituts zu benutzen, um festzustellen, worauf der Text geschrieben worden war.
Aber war das nicht nur ein weiteres Beispiel dafür, wie eine kleinliche Bürokratie das Voranschreiten menschlicher Erkenntnis verhindern konnte? Nichts machte ihn wütender.
Doch jetzt war nicht der richtige Zeitpunkt, sich zu ärgern. Alles in allem hatte er ziemliches Glück gehabt. Er hatte seine Beute, musste zurzeit keinen anderen dringenden Pflichten nachgehen und war an einem Ort, an dem er ungestört arbeiten konnte. Morgen, so nahm er sich vor, würde er anfangen, den schief hängenden Haussegen wieder geradezurücken. Wenn man ihn nur sich selbst überließe, würde er die Stückchen zusammenfügen und die verschollene Schriftrolle übersetzen, neben der sich der Legende nach das Buch der Offenbarung wie ein Märchen las.
Vorsichtig ergriff er einen weiteren Pergamentfetzen mit den behandschuhten Händen, legte es auf den Tisch und glättete es vorsichtig mit den Fingerspitzen. Es war dicht
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