Das letzte Relikt
Kimberly ganz oben auf der Liste. Während Ezras Mutter jahrelang unter Operationen und Chemotherapien gelitten hatte, hatte sein Vater sich zunehmend zurückgezogen und immer weniger Interesse an ihr gezeigt. An Ezra und seinem Onkel Maury war es hängengeblieben, für sie da zu sein, sie zu trösten und sich um sie zu kümmern. In der Nacht, in der sie in dem Privatzimmer im Sloan-Kettering-Krankenhaus starb, war Sam nirgendwo aufzufinden gewesen. Ezra hatte zu Hause angerufen, hatte mit der Sekretärin in seinem Büro gesprochen und es im Metropolitan Club probiert, doch Sam war und blieb verschwunden. Später hatte er erfahren, dass sein Vater sich in Kimberlys Wohnung verkrochen hatte, einer ordentlichen kleinen Maisonette am Beekman Place, die er für sie gekauft hatte. Während Ezras Mutter ihren letzten Atemzug tat, hatte Sam vermutlich Atemübungen mit seiner äußerst entgegenkommenden Werbefachfrau gemacht.
Als er sich beruhigt hatte und die Situation kritisch abschätzte, begriff Ezra, dass er sein kleines Refugium vielleicht noch ein klein wenig länger behalten könnte. Er müsste sich nur so weit wie möglich zurückhalten und vielleicht sogar einen Weg finden, sich zu entschuldigen. Auch wenn ihm im Moment nicht einfiel, wie man allen Ernstes behaupten konnte, man habe eine so deutliche Aussage nicht so gemeint. In den letzten Jahren war er häufig ähnlich heftig mit seinem Vater aneinandergeraten wie heute, und seine Stiefmutter würde vermutlich ebenso wie er bestrebt sein, so zu tun, als sei es nie geschehen. Es würde ihr nichts nützen, sich zwischen Sam und seinen Sohn zu stellen, egal, wie zerstritten sie waren.
Natürlich wusste Ezra sehr wohl, dass die meisten normalen Leute in seiner Lage einfach ausziehen und sich eine eigene Wohnung suchen würden, doch für ihn war das nicht so einfach. Er besaß kein Geld, über das er selbst verfügen könnte, oder auch nur eine Kreditkarte. Alles kam von Sam, ausgespuckt von einem der Schmarotzer aus der Buchhaltung, und das Letzte, was Ezra wollte, war, die Dinge aufzurühren und um eine neue Vereinbarung zu bitten. Wenn er ruhig und unbemerkt blieb, wo er war, ließ Sam ihn vielleicht in Ruhe. Wenn er hingegen anfing, um mehr zu bitten, könnte es heikel werden. Womöglich würde sein Vater ihm die Unterstützung ganz verweigern und von ihm verlangen, sich einen Job zu suchen.
Doch was Ezra anging, hatte er bereits einen Job – den wichtigsten auf der Welt.
Als die Wirkung des Xanax einsetzte und ihm diese neue und gelassene Sichtweise bescherte, fühlte er sich entspannt genug, um wieder an diese Aufgabe zu denken. Und an die Arbeit, die er sich für diesen Abend vorgenommen hatte. In der Wohnung war es jetzt still. Soweit er wusste, waren sein Vater und Kimberly ausgegangen, und nichts stand ihm im Weg. Er erhob sich vom Bett und ging zu den Terrassentüren, die auf einen kleinen Balkon führten. Tief unter ihm bildeten die Rücklichter der Autos auf dem FDR Drive ein hellrotes Band in der Nacht, und auf der anderen Seite des Flusses, in Queens, leuchtete ein kaum sichtbares silbernes Kreuz auf dem Turm einer Kirche.
Die Nachtluft war erfrischend. Er war bereit, sich an die Arbeit zu machen.
Er ging wieder hinein, schloss die Türen und zog beide Vorhänge vor. Er hatte Gertrude gebeten, ein zweites Paar aufzuhängen, damit kein Sonnenlicht in den Raum drang. Sie hatte ihn fragend angesehen, ihm aber seine Bitte erfüllt.
Im Arbeitszimmer schaltete er die Lampe an, die er am Zeichentisch befestigt hatte, dann kniete er neben der Spielzeugkiste nieder und öffnete sie mit dem Schlüssel, den er am Boden festgeklebt gefunden hatte. Genau dort, wo er sie versteckt hatte, inmitten der Comics und Bongos, lag die Papprolle.
Er zog den Deckel von einem Ende der Rolle ab und entfernte die billigen Papyrusblätter, die er in einem Souvenirgeschäft gekauft hatte, kurz bevor er den Nahen Osten verlassen hatte. Das oberste zeigte Anubis, den schakalköpfigen Gott, der die Seelen der Toten wog. Als Nächstes kam ein Bild von Osiris, der über alle Kreaturen der Erde und des Himmels herrschte. Doch es war der dritte Gegenstand, in Zellophan gehüllt und um die anderen herumgerollt, auf den es ihm ankam. Diesen holte er so vorsichtig wie möglich aus der Papprolle. Er warf die anderen beiden Blätter beiseite und legte die Zellophanhülle ehrfurchtsvoll auf die saubere, flache Oberfläche des Zeichentisches. Die Platte war nur wenige Grad geneigt, um
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