Das letzte Riff
Keen?«
»Er war schon früh auf. Wir haben alle nicht viel geschlafen, Sir.«
Bolitho lächelte flüchtig. »Sie müssen wenigstens nicht Wachen gehen wie die anderen Offiziere, Stephen. Vielleicht sollte ich Sie stärker rannehmen?«
Er ließ seine Gedanken treiben wie die Gischt, die gegen die Heckfenster schlug, und lauschte dem dumpfen Knarren des Ruderkopfs, wenn See und Wind den Druck verstärkten. Mehr kann ich nicht tun, dachte er. Ich tappe im Dunklen und kann nicht einmal von Vermutungen ausgehen, denn ich weiß nicht, was um uns herum geschieht.
Angenommen, der Feind griff Antigua an. Was würde Herrick dann tun – einen aussichtslosen Kampf wie seinen letzten beginnen? Oder sich zurückziehen, bis Hilfe kam? Nein, er würde kämpfen. Um sich selber zu bestrafen oder um die mit Verachtung zu bestrafen, die ihn gern schuldig gesprochen hätten.
Er dachte an Adams Empörung und versuchte sich vorzustellen, wie es zwischen den beiden zugegangen war. Bestimmt sehr gespannt. Aber Adam bedrückte noch etwas anderes. Vielleicht würde er sich ihm bei passender Gelegenheit offenbaren.
Jenour meldete plötzlich: »Der Ausguck hat eben gerufen, Sir Richard.« Das klang besorgt.
Bolitho sah, daß Allday zwar beim Polieren der alten Klinge innehielt, aber er hatte nichts gehört.
»Nur ruhig, Stephen. Wir werden bald wissen, was los ist.« Wieder einmal war Jenour fasziniert von diesem Mann. Wie kein zweiter konnte er seine Gefühle verbergen, vor allem dann, wenn wie heute soviel von ihm abhing. Oder erst morgen? Jenour wußte: heute war der Tag.
Draußen bellte der Posten: »Midshipman der Wache, Sir!« Midshipman M’Innes trat zögernd ein und sah sich in der halbdunklen Kajüte um. »Kapitän Keen läßt melden, Sir, daß …« Er stockte.
Bolitho half ihm sanft weiter: »Wir sind alle sehr interessiert an Ihrer Meinung, Mr. M’Innes, also sprechen Sie bitte.«
Der Junge wurde rot. »Ein Segel im Westen, Sir. Der Ausguck meint, es könnte eine Fregatte sein.«
Bolitho lächelte, doch seine Gedanken rasten. Eine Fregatte. Sie mußte die
Black Prince
gegen den heller werdenden Horizont längst entdeckt haben und die beiden anderen Schiffe auch. Ein Freund wie die
Tybalt
? Er versuchte seine aufkeimende Hoffnung zu unterdrücken. Selbst mit einer Fregatte würde er tagelang zwischen den Inseln suchen müssen.
»Übermitteln Sie dem Kommandanten meinen Dank. Ich bin sofort oben.«
Er nahm seine leere Kaffeetasse und schaute hinein. »Kein Satz darin zum Wahrsagen.«
Allday grinste. »Es gäbe auch nichts Neues, Sir Richard.« Er ließ den Degen in die schöne Lederscheide gleiten. Von denen hat er sicher viele überlebt, dachte Allday, aber noch keine ihn.
»Noch nicht, alter Freund.« Bolitho schaute zu seinem Flaggleutnant hinüber. »Sind Sie soweit, Stephen?«
Leise antwortete Stephen, der den Wortwechsel nicht ganz verstanden hatte: »Ich bin bereit, Sir Richard.«
»Dann lassen Sie uns nach oben gehen.«
Als sie die Kajüte verlassen hatten, ließ Allday sich in Bolithos Sessel sinken. Seine Wunde schmerzte fürchterlich, das war immer ein sicheres Vorzeichen. Er lachte trocken. Es waren nur die Nerven. Bei einem so alten Kämpen? Laß dich nicht einschüchtern, dachte er.
Ozzard war leise eingetreten. »Was ist denn, John?«
»Tu’ mir einen Gefallen: Hol’ meine Jacke und mein Entermesser aus meiner Kammer, ja?«
Ozzard reagierte wie erwartet: »Ich bin doch nicht dein Diener.«
Allday fühlte die Spannung nachlassen. Wenn er seiner Sache sicher war, schwand auch der Schmerz. »In ein oder zwei Minuten wird man mich oben brauchen, Tom.« Er sah Ozzard erschrecken und fügte freundlich hinzu: »Wir müssen heute kämpfen, also ab mit dir, bitte!« Er ergriff den Steward an seinem dünnen Arm. »Ich will dir noch was sagen, ehe ich die Luken zumache.« Er spürte die Furcht des schmächtigen Mannes selbst durch den Ärmel hindurch. »Falls das Schlimmste passiert …« Er ließ seine Worte einwirken. »Dann will ich nicht wieder den Blödsinn erleben wie auf der alten
Hyperion
. Ob du willst oder nicht, wir sind Kameraden. Also stehen wir auch zusammen.« Er sah Dankbarkeit in Ozzards Blick. »Und bring’ mir auch einen Schluck zu trinken mit.«
Bolitho stand neben Keen und Jenour an der Heckreling, die Arme vor der Brust verschränkt, und beobachtete, wie die noch schwache Sonne die See eroberte. Querab stand die
Relentless
, nur eine Meile entfernt, solange das Licht keine
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