Das Letzte Ritual
angestachelt hatte, Gunnar unter Druck zu setzten – dieser blöde Gastbucht, so nannte er ihn.«
»Gastbucht?«, stieß Dóra hervor. Hatte das nicht auf Haralds Notizzettel gestanden? Gastbucht? Es handelte sich gar nicht um das Gästebuch des Kreuzes, wie sie gedacht hatte – es war kein Kreuz, sondern ein kleines t. Gastbucht war die wortwörtliche deutsche Übersetzung des Namens Gestvík.
Dóra und Matthias eilten direkt zurück zum Árnagarður. Im Laufen rief Dóra bei der Polizei an und berichtete Markús von ihrem Verdacht gegen Gunnar. Markús war nicht sehr angetan. Nach einigen Überzeugungsversuchen willigte er ein, die Kontobewegungen des Professors überprüfen zu lassen.
Gunnars Büro war leer. Anstatt draußen zu warten, setzten sich Dóra und Matthias einfach hinein. Gunnar musste noch bei der Besprechung mit der Direktorin sein.
Matthias schaute auf die Uhr. »Er muss gleich zurück sein.«
Im selben Moment ging die Tür auf und Gunnar trat ein.
Als er die beiden erblickte, erstarrte er. »Wer hat Sie hier reingelassen?«
»Niemand. Es war offen«, antwortete Dóra seelenruhig.
Gunnar stolzierte zu seinem Schreibtisch. »Ich dachte, wir hätten uns eben erst verabschiedet.« Er setzte sich auf seinen Stuhl und schaute sie entrüstet an. »Ich bin nicht in bester Stimmung. Maria war nicht gerade begeistert, den Brief in diesem schlimmen Zustand zurückzubekommen.«
»Wir wollen Sie nicht lange aufhalten«, erklärte Matthias. »Wir konnten die Sache eben nicht richtig zu Ende bringen.«
»Was?«, blaffte Gunnar. »Ich finde nicht, dass wir noch etwas zu besprechen haben.«
»Wir würden Sie aber gern noch nach ein paar ungeklärten Kleinigkeiten fragen«, sagte Dóra.
Gunnar lehnte den Kopf zurück und starrte in die Luft. Er stöhnte vernehmlich, bevor er sie wieder anschaute. »Na gut. Was möchten Sie wissen?«
Dóra blickte erst zu Matthias, dann zu Gunnar. »Das alte Kreuz, von dem in dem Brief an Árni Magnússon die Rede ist – könnte es sich dabei um das Kreuz in der Papar-Höhle in der Nähe von Hella handeln? Sie müssten sich in dieser Epoche doch perfekt auskennen, nicht wahr? Das Kreuz befand sich schon vor der eigentlichen Landnahmezeit in Island.«
Gunnar wurde dunkelrot. »Was soll ich darüber wissen?«, stieß er hervor.
Dóra zuckte mit den Schultern. »Ich glaube, Sie wissen alles darüber. Auf dem Foto da, das sind doch Sie und der Bauer, dem das Land mit den Höhlen gehört?« Sie zeigte auf das gerahmte Foto an der Wand. »Die Höhlen der Papar.«
»Ja, richtig. Ich verstehe den Zusammenhang nicht ganz«, sagte Gunnar. »Sie stellen mir merkwürdige Fragen und interessieren sich auf einmal für Geschichte. Wenn Sie sich an der Uni einschreiben möchten – vorne im Empfang liegen die Antragsformulare.«
Dóra ließ sich nicht von seinen Worten beirren. »Ich glaube, Sie wissen ganz genau, wie das zusammenhängt. Sie waren bei dem Erasmus-Treffen, das an dem Mordabend bis Mitternacht gedauert hat.« Als Gunnar nicht antwortete, fügte sie hinzu: »Haben Sie Harald an diesem Abend getroffen?«
»Was soll denn der Unsinn? Ich habe wiederholt bei der Polizei Aussagen zu Haralds verfrühtem Ableben gemacht. Ich war in der unglücklichen Lage, die Leiche zu finden, dafür kann ich nichts. Deshalb gehen Sie jetzt besser.« Zitternd zeigte er auf die Tür.
»Ich bin sicher, dass die Polizei die Protokolle noch einmal durchgehen wird, jetzt, wo klar ist, wie die Schändung der Leiche zustande gekommen ist«, sagte Dóra und lächelte Gunnar spöttisch an.
»Was meinen Sie?«, fragte Gunnar bebend.
»Die Polizei hat denjenigen ausfindig gemacht, der die Augen herausgeschnitten und die Rune in die Leiche geritzt hat. Ihr Schock beim Anblick der Leiche ist keine Versicherung mehr dafür, dass die Polizei Sie weiterhin mit Seidenhandschuhen anpacken wird. Nach der Aussage dieses Mannes sieht die Sache nämlich ganz anders aus.«
Gunnar rang nach Atem. »Sie hatten es doch eilig. Ich auch. Ich will Sie nicht länger aufhalten. Lassen wir es gut sein.«
»Sie haben ihn mit der Krawatte erwürgt«, sagte Dóra weiter. »Ihre Krawattennadel wird es beweisen.« Sie erhob sich. »Das Motiv wird schon noch ans Licht kommen, es spielt im Moment keine Rolle. Sie haben ihn umgebracht. Nicht Hugi, nicht Halldór und schon gar nicht Bríet. Sondern Sie.« Sie schaute ihm ins Gesicht und war zwischen Abscheu und Mitgefühl hin- und hergerissen. Gunnar bebte. Matthias
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