Das Letzte Ritual
Schlüssel und sein Passwort. Er war betrunken und stand unter Drogen. Ich versuchte noch einmal, mit ihm zu reden, bat ihn um Verständnis. Er hat mich nur ausgelacht. Ich folge ihm ins Studentenzimmer. Er kramte in einem Schrank herum, holte eine kleine, weiße Pille heraus und schluckte sie runter. Danach verhielt er sich noch komischer. Er ließ sich in einen Sessel fallen, drehte mir den Rücken zu und wollte sich von mir die Schultern massieren lassen. Ich dachte, er sei verrückt geworden. Jetzt weiß ich, dass Ecstasy das Bedürfnis nach körperlicher Berührung verstärkt. Ich trat zu ihm und wollte zuerst tun, was er verlangte, um ihn zu besänftigen. Aber dann packte mich dieser Hass. Bevor ich es selbst begreifen konnte, hatte ich meine Krawatte ausgezogen und ihm um den Hals gelegt. Ich zog sie zu. Er schlug um sich. Dann passierte nichts mehr. Er war tot. Glitt langsam und still vom Stuhl auf den Fußboden. Dann bin ich gegangen.« Gunnar schaute Dóra an und wartete auf ihre Reaktion. Er schien Matthias vollkommen vergessen zu haben.
Der Lärm der Sirenen drang durchs Fenster und wurde immer lauter. »Sie kommen, um Sie zu holen«, sagte Dóra.
Gunnar schaute zum Fenster. »Ich wollte doch Rektor werden«, sagte er ernüchtert.
»Das können Sie wohl vergessen.«
13. DEZEMBER 2005
EPILOG
Amelia Guntlieb starrte auf die Tischplatte, stumm wie ein Fisch. Dóra vermutete, dass sie sich nicht traute, etwas zu sagen. An ihrer Stelle wäre Dóra auch schweigsam gewesen. Matthias hatte gerade den Stand der Dinge erläutert. Viel mehr würde wohl nicht mehr ans Licht kommen. Dóra bewunderte Matthias dafür, wie es ihm gelang, die verletzenden Dinge abzuschwächen. Dennoch war die Geschichte widerwärtig und schwer zu ertragen – sogar für Dóra, die schon alle Seiten kannte.
»Der Hexenhammer und die anderen Bücher, die Gunnar in der Höhle ausgegraben hat, wurden gefunden«, sagte Matthias ruhig. »Auch das Geld. Er hatte nur einen Bruchteil davon ausgegeben. Das Geld lag in einem Schließfach bei der Bank.«
Nachdem die Polizei Gunnar am Tag zuvor festgenommen hatte, waren Dóra und Matthias verhört worden, sodass aus ihrem gemeinsamen Abendessen nichts mehr wurde. Als die Polizei sie endlich gehenließ, wollte Dóra Amelia Guntlieb nicht mehr treffen. Stattdessen war sie nach Hause gefahren. Bevor sie sich mit Gylfi zusammengesetzt hatte, um über das Kind zu reden, hatte sie lange mit Laufey telefoniert. Diese hatte ihr geraten, dem Jungen eine konkrete Aufgabe zu geben, damit er sich besser in seine neue Rolle einfinden könnte. Sie könnte ihn beispielsweise anspornen, sich mögliche Namen für das Kind zu überlegen.
Jetzt saßen sie in dem menschenleeren Café im Rathaus. Elisa hatte bei Matthias’ Ausführungen ein wenig geweint, aber ihre Mutter war wie versteinert. Sie starrte abwechselnd vor sich hin und auf die Tischplatte. Jetzt blickte sie auf und holte tief Luft. Niemand sagte etwas. Alle warteten darauf, dass sie etwas sagen, weinen oder auf andere Weise ihre Gefühle zum Ausdruck bringen würde. Aber nichts geschah. Frau Guntlieb schaute niemanden an, sondern richtete ihren Blick auf die große Glasfront zum See und beobachtete die träge umherschwimmenden Enten und Gänse. Der Wind kräuselte die Wasseroberfläche und die Vögel wippten gemächlich in den Wellen auf und ab. Auf einmal kam eine Möwe herangesaust und landete mitten in der zerstreuten Gruppe. »Elisa, sollen wir uns das Islandmodell anschauen?«, fragte Matthias unvermittelt. »Da hinten.« Elisa nickte matt. Sie standen auf und gingen in den großen Saal neben dem Café. Dóra und Haralds Mutter blieben allein zurück.
Die Frau schien überhaupt nicht wahrgenommen zu haben, dass die beiden gegangen waren. Dóra räusperte sich höflich; keine Reaktion. Sie wartete eine Weile, bis sie spürte, dass sie zu eindringlicheren Mitteln greifen musste. »Ich habe nicht viel Erfahrung mit solchen Situationen und es fällt mir schwer, die richtigen Worte zu finden. Ich möchte nur, dass Sie wissen, dass Sie und Ihre Familie meine ganze Anteilnahme haben.«
Die Frau schnaubte. »Ich habe keine Anteilnahme verdient – nicht von Ihnen und auch sonst von niemandem.« Sie richtete ihren Blick auf Dóra. Erst sah sie erzürnt aus, schien sich dann aber zu entspannen. »Entschuldigen Sie. Ich bin nicht ganz bei mir.« Sie legte ihre Hände auf den Tisch und fingerte an ihren Ringen herum. »Ich weiß nicht, warum ich das
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