Das letzte Theorem
als auch die Meeresbrise, die sein Gesicht fächelte, während er sich rüstete, über die beiden Probleme nachzudenken, die ihm auf der Seele brannten.
Über die erste Angelegenheit brauchte er sich nicht lange den Kopf zu zerbrechen. Dass sein Vater sich noch nicht mit ihm hatte befassen können, störte ihn wenig. Ganesh hatte seinem sechzehnjährigen Sohn nicht gesagt, weshalb er ihn zu sprechen wünschte. Doch den Grund dafür konnte Ranjit sich
ziemlich genau vorstellen, und der zu erwartenden Diskussion sah er bangen Herzens entgegen.
Die Sache war sehr peinlich, und das Schlimmste daran war, dass sie sich leicht hätte vermeiden lassen. Wenn er daran gedacht hätte, seine Zimmertür abzuschließen, hätte der Pförtner des Studentenwohnheims nicht so einfach in den Raum hereinplatzen und ihn zusammen mit Gamini erwischen können. Aber Ranjit hatte nun mal vergessen, die Tür abzusperren, der Pförtner hatte sie ertappt, und Ranjit wusste, dass Ganesh Subramanian seitdem längst mit dem Mann gesprochen hatte. Ganesh würde behaupten, er erkundige sich lediglich, um sich davon zu überzeugen, dass es Ranjit an nichts fehle. Doch dieser ständige Kontakt trug natürlich auch dazu bei, dass Ganesh stets über alles, was sich im Leben seines Sohnes abspielte, bestens unterrichtet war.
Ranjit seufzte. Das zu erwartende Gespräch belastete ihn, am liebsten hätte er sich davor gedrückt. Aber das ging nicht, und deshalb richtete er seine Aufmerksamkeit auf das zweite Thema, das ihm am Herzen lag - dem wichtigen -, das nahezu ständig seine Gedanken beherrschte.
Von seinem erhöhten Aussichtspunkt auf der Spitze des Swami-Felsens, hundert Meter über der Dünung, die die Bucht von Bengalen bewegte, blickte er nach Osten. In der Dämmerung war nichts zu sehen außer Wasser - mit Ausnahme von ein paar verstreuten Inseln gab es über tausend Kilometer weit auch nichts zu entdecken, bis man die Küste Thailands erreichte. An diesem Abend hatte der Nordostmonsun sich beruhigt, und der Himmel war wie blankgefegt. Dicht über dem östlichen Horizont funkelte ein Stern, dessen Licht eine leicht orangerote Färbung aufwies; es war der hellste Stern am Himmel. Beiläufig fragte sich Ranjit, wie er wohl heißen mochte. Sein Vater würde es natürlich wissen. Ganesh Subramanian war ein frommer und aufrichtiger Anhänger der Astrologie, wie es sich für einen Tempelpriester gehört. Gleichzeitig hatte er sich sein Leben lang für alle möglichen Wissenschaftszweige
interessiert. Er kannte die Planeten des Sonnensystems, wusste die Namen vieler ihrer Elemente und vermochte zu erklären, wie es möglich war, dass ein paar Stäbe aus metallischem Uran genug Elektrizität erzeugten, um eine ganze Stadt zu beleuchten; ein bisschen von dieser Begeisterung hatte er an seinen Sohn weitergegeben. Doch Ranjit fühlte sich weniger zu Astronomie, Physik und Biologie hingezogen, sondern sein Wissensdurst richtete sich in erster Linie auf das Fachgebiet, ohne das keine Naturwissenschaft auskam - die Mathematik.
Rajit wusste, dass er dies seinem Vater verdankte, wegen des Buchs, das dieser ihm zu seinem dreizehnten Geburtstag geschenkt hatte. Der Verfasser hieß G. H. Hardy, und es trug den Titel Verteidigungsrede eines Mathematikers . In diesem Buch stieß Ranjit zum ersten Mal auf den Namen Srinivasa Ramanujan, ein verarmter indischer Büroangestellter, der ohne formelle Ausbildung in Mathematik die mathematische Welt während der finsteren Jahre des Ersten Weltkriegs in Erstaunen versetzte. Ramanujan hatte Hardy einen Brief geschrieben, in dem er rund hundert von ihm entdeckte Theoreme oder Lehrsätze anführte; daraufhin holte Hardy ihn nach England und half ihm, Weltruhm zu erlangen.
Ramanujan inspirierte Ranjit - offenbar konnte in jedem ein mathematisches Genie schlummern -, und das Buch weckte in ihm ein ausgeprägtes Interesse für Zahlentheorie. Aber nicht nur für Zahlentheorie generell; insbesondere beeindruckten ihn die verblüffenden Erkenntnisse des genialen Pierre de Fermat, der zu Anfang des 17. Jahrhunderts geboren wurde, und am allermeisten faszinierte ihn die quälende Frage, deren Beantwortung Fermat seinen Nachfolgern überlassen hatte, nämlich ob es ihm tatsächlich gelungen war, den Beweis für seine Behauptung, die unter dem Namen Fermats Letzter Satz oder Fermat’sche Vermutung Generationen von Mathematikern in Atem hielt, zu finden. Jetzt galt es zu bestätigen, dass es diesen Beweis tatsächlich gab, oder man
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