Das letzte Theorem
Vater nickte. »Ja«, entgegnete er und meinte damit, dass Ranjit nicht nur Recht hatte, sondern er obendrein sehr wohl darüber im Bilde war, dass sein Sohn keineswegs darben musste. »Erzähl mir, was die Universität dir sonst noch zu bieten hat. Was treibst du so?«
Ranjit hätte bei diesem Stichwort einhaken und erklären können, dass ein junger Mann das Recht auf ein Privatleben hätte und er sich dagegen verwahre, von Dienstboten ausspioniert zu werden. Doch er zog es vor, dieses Thema so lange wie möglich hinauszuschieben. »Hauptsächlich beschäftige ich mich mit Mathematik«, improvisierte er hastig. »Du kennst doch Fermats Letzten Satz …« Als Ganesh nun zum ersten Mal vergnügt dreinblickte, legte Ranjit nach: »Selbstverständlich kennst du ihn. Du hast mir doch das Buch von Hardy geschenkt. Nun ja, da gibt es diesen sogenannten Beweis von Wiles. Er ist ein Gräuel. Wie konstruiert Wiles seinen Beweis? Er gründet auf Ken Ribets Behauptung, er hätte eine Verbindung zwischen Fermat und Taniyama-Shimura entdeckt. Es existiert eine Vermutung, die besagt …«
Ganesh tätschelte seine Schulter. »Ja, Ranjit«, unterbrach er ihn freundlich. »Du brauchst dir nicht die Mühe zu geben, mir diese Taniyama-Shimura-Geschichte zu erklären.«
»Also gut.« Ranjit überlegte einen Moment. »Tja, dann vereinfache ich das Ganze. Der Haken an Wiles’ Argument besteht in zwei Lehrsätzen. Der erste besagt, dass eine partikulare elliptische
Kurve semistabil, aber nicht modular ist. Der zweite lautet, alle semistabilen elliptischen Kurven mit rationalen Koeffizienten sind modular. Das stellt einen krassen Widerspruch dar und …«
Ganesh seufzte nachsichtig. »Du hast dich wirklich in diesen Stoff vertieft, nicht wahr?«, bemerkte er. »Aber wie du weißt, übersteigt diese Art von Mathematik meinen Horizont, also lass uns von etwas anderem reden. Wie geht es mit deinen übrigen Studien voran?«
»Äh …«, erwiderte Ranjit leicht verwirrt; er war sich sicher, dass sein Vater ihn nicht nach Trincomalee beordert hatte, um mit ihm über seinen Unterricht zu reden. »Nun, meine übrigen Studien …« Sie waren auf jeden Fall ein weitaus angenehmeres Gesprächsthema als die Angelegenheit, die der Pförtner seinem Vater zugetragen hatte. Trotzdem hatte er keine große Lust, sich darüber auszulassen. Aber Ranjit ergab sich in sein Schicksal, seufzte und legte los. »Also wirklich, warum muss ich Französisch lernen? Damit ich am Flughafen Souvenirs an Touristen aus Madagaskar oder Quebec verkaufen kann?«
Sein Vater schmunzelte. »Französisch ist eine wichtige Kultursprache«, hielt er entgegen. »Außerdem die Muttersprache deines Helden, Monsieur Fermat.«
»Huh!«, entfuhr es Ranjit, der diesen Einwand akzeptierte, aber trotzdem noch nicht überzeugt war. »Na schön, aber was ist mit Geschichte? Wer interessiert sich schon für diesen alten Kram? Warum muss ich wissen, was der König von Kandy zu den Portugiesen sagte? Oder ob die Holländer die Briten aus Trinco vertrieben oder umgekehrt?«
Wieder klopfte sein Vater ihm auf die Schulter. »Die Universität verlangt diese Allgemeinbildung von dir, ehe man dir einen akademischen Grad gewährt. Später, in höheren Semestern, kannst du dich nach Lust und Laune spezialisieren. Gibt es außer Mathematik denn keinen anderen Lehrstoff an der Universität, der dir gefällt?«
Ranjits Miene erhellte sich ein wenig. »Jetzt noch nicht, aber nächstes Jahr bin ich fertig mit dieser wirklich langweiligen
Biologie. Dann kann ich einen Kurs in einer anderen Wissenschaft belegen, und ich werde mich für Astronomie entscheiden.« Ihm fiel wieder etwas ein, und er schaute hinauf zu dem funkelnden roten Stern, der nun den östlichen Horizont beherrschte.
Sein Vater enttäuschte ihn nicht. »Ja, das ist der Mars«, erklärte er, Ranjits Blickrichtung folgend. »Heute scheint er ungewöhnlich hell; das liegt an dem klaren Himmel.« Er wandte sich erneut seinem Sohn zu. »Da wir gerade von dem Planeten Mars sprechen, weißt du noch, wer Percy Molesworth war? Wir besuchten einige Male sein Grab.«
Ranjit forschte in seinen Kindheitserinnerungen, und zu seiner Freude wurde er fündig. »Ja, richtig. Der Astronom.« Sie bezogen sich auf Percy Molesworth, den Hauptmann der britischen Armee, der gegen Ende des 19. Jahrhunderts in Trincomalee stationiert war. »Der Mars war sein Spezialgebiet, nicht wahr?«, fuhr er fort, glücklich, über etwas reden zu können, das seinem
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