Das letzte Zeichen - Die Verschwundenen: Band 2 (German Edition)
gab.
Evie hatte Raffy die Uhr in die Hand gedrückt, so wie Lucas es bei ihr getan hatte, und ihm erklärt, dass Lucas wollte, dass er sie bekäme. »Er hat gesagt, sie hat immer dir gehört. Euer Vater hatte ihn gebeten, für dich darauf aufzupassen. Er konnte sie dir nicht früher geben. Aber jetzt … jetzt sollst du sie tragen.«
Raffy betrachtete die Uhr eine Weile und stopfte sie dann in seine Tasche.
»Willst du sie nicht umtun?«, fragte Evie, fing sich aber nur einen wütenden Blick ein.
»Umtun? Nein«, entgegnete Raffy schroff.
Und damit war die Sache erledigt – dachte Evie zumindest. Ein paar Wochen später nahm sie noch einmal ihren ganzen Mut zusammen und fragte Raffy, ob er sich vorstellen könnte, die Uhr zu tragen.
»Lucas’ Uhr?«, meinte Raffy spöttisch. »Die hab ich gar nicht mehr. Ich hab sie beim Bäcker gegen Kuchen eingetauscht. Erinnerst du dich an den Schokoladenkuchen? Der ist mehr wert als eine goldene Uhr.«
Evie hatte ihn ungläubig angestarrt. »Aber Lucas hat die Uhr extra für dich aufgehoben. Jahrelang. Sie hat doch deinem Vater gehört. Er … «
»Nicht«, unterbrach Raffy sie. Er ging auf Evie zu mit einem Gesichtsausdruck, der ihr völlig fremd war. Sein Blick war so kalt, als wäre er jemand anders, jemand, den sie nicht kannte und den sie auch nicht kennen wollte. »Erwähne Lucas mir gegenüber nie wieder. Oder meinen Vater. Oder diese Uhr. Hast du verstanden?« Sein Gesicht war ganz nah, aber es lag keine Vertrautheit, keine Zärtlichkeit in seinem Blick. Er nahm sie überhaupt nicht wahr. Er sah nur seinen Groll, sah nur seine eigene selbstsüchtige Wut.
Evie hatte nur genickt. Sie schäumte innerlich vor Wut und konnte Raffy kaum ansehen, geschweige denn mit ihm reden. Doch vier Monate später hatte der Bäcker eine ganze Garnitur Vorhänge und Kissenbezüge bekommen, die Evie selbst aus Stoffresten aus den Arbeitsräumen genäht hatte, und sie hatte die Uhr wieder.
Jetzt brachte sie die Uhr regelmäßig zu einem Versteck und ließ sie nie längere Zeit am selben Ort. Noch etwas, was sie vor Raffy geheim halten musste, eine Zeitbombe, die jeden Moment hochgehen konnte. Aber dieses Risiko ging sie ein. Raffy war ja vielleicht froh, wenn er nicht mehr an Lucas denken musste, wenn er dessen Opfer vergessen und so tun konnte, als hätte Lucas nie existiert. Aber Evie konnte das nicht. Und sie wollte es auch nicht.
Lucas existierte. Und Evie hoffte, dass er glücklich war, dass er endlich in der Stadt den Frieden gefunden hatte, den er gesucht hatte. »Gut, dann sehen wir uns am Mittwoch«, meinte Neil achselzuckend, lächelte ihr ein letztes Mal zu und ging davon.
4
L ucas atmete tief durch und musterte die Frau, die ihm gegenübersaß. Amy Jenkins. Er hatte schon oft mit ihr gesprochen; er hatte dafür gesorgt, dass ihre Zeitung The City News erscheinen konnte, weil er dachte, die Bürger der Stadt würden die Einführung der Pressefreiheit, des eigenständigen Denkens, begrüßen und dadurch ermutigt, wieder an sich selbst zu glauben und gemeinsam eine neue Welt aufzubauen.
Das war vor einem Jahr gewesen. Vor einer Ewigkeit.
Doch jetzt war alles anders.
Jetzt durchstreiften Suchmannschaften die Straßen der Stadt; vor seinen Büros versammelten sich Menschenmassen und forderten seinen Kopf. Er sah überall nur noch wütende Gesichter und hörte verzweifelte Appelle. Und alle wollten nur das eine: das System sollte wieder errichtet werden, die Neutaufe sollte wieder eingeführt werden. Zurück zum Bruder. Zur Unterwürfigkeit.
Lucas spürte, wie es ihm die Kehle zuschnürte.
»Wir sollten nicht vergessen«, sagte er betont kühl, ohne sich seine innere Unruhe anmerken zu lassen, »dass das System uns zu Sklaven gemacht hat. Die Urteile waren willkürlich, sie wurden vom Bruder kontrolliert, um den Menschen Angst zu machen, um sie auseinanderzubringen, um seine Freunde zu belohnen und seine Feinde zu bestrafen. Das System war korrupt.«
»Aber trotzdem«, erwiderte Amy und kniff die Augen zusammen, »war die Stadt ein Ort der Sicherheit und des Friedens. Heute verschwinden unsere jungen Leute einfach. Jede Woche wird jemand entführt, zu Hause oder auf der Straße, und ist wie vom Erdboden verschluckt. Sie haben dir vertraut, ihre Familien haben dir vertraut. Sie haben gedacht, sie wären sicher und du würdest die Bösen von der Stadt fernhalten. Aber du hast sie enttäuscht und du enttäuschst sie immer noch. Was sagst du dazu?«
Lucas schloss die
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