Das letzte Zeichen - Die Verschwundenen: Band 2 (German Edition)
verließ sein Büro, er musste hinaus an die frische Luft. Amy hatte recht: Er hatte die Menschen enttäuscht. Er hatte das System aufgelöst, das System, das jeden verfolgt hatte, das System, das ihm jetzt zeigen könnte, wo die Verschwundenen waren und was mit ihnen passiert war. Er, Linus, Evie und Raffy hatten das System freudig und triumphierend zerstört. Aber Lucas hatte dabei nicht erkannt, was für eine Stütze es für die Stadt gewesen war, und dass ohne das System allmählich alles zerfallen würde.
Eigentlich stimmte das nicht ganz. Linus hatte versucht, es Lucas zu erklären, aber Lucas hatte nicht zugehört, oder besser gesagt, er wollte nicht zuhören. Er wollte einfach sein neues Leben anfangen und die Aufgabe weiterführen, mit der sein Vater ihn Jahre zuvor betraut hatte.
Es war jetzt fast ein Jahr her, dass Linus, Raffy, Evie und die anderen mit Lucas’ Hilfe die Stadt gestürmt hatten. Sie hatten das System, das die Bürger so lange kontrolliert hatte, außer Kraft gesetzt und die Wahrheit ans Licht gebracht, die der Bruder ihnen vorenthalten hatte. Das System hatte alles gewusst, alles gesehen, alles verstanden. Linus hatte es ursprünglich aufgebaut, um die Bedürfnisse der Menschen zu erkennen und eine neue Welt zu schaffen, in der Glück nicht nur Wunschdenken war, sondern wo es Glück tatsächlich gab. Doch schon bald hatte der Bruder das System für seine Zwecke missbraucht und manipuliert. Er spielte Polizist statt den Wohltäter und überwachte die Bürger der Stadt, um sicherzugehen, dass sie nicht aus der Reihe tanzten.
Linus hatte Lucas erklärt, dass es nicht genügen würde, das System abzuschalten, sondern dass jedes Überbleibsel des alten Regimes zerstört werden müsse, damit die Menschen keine andere Wahl hatten, als den Wandel zu akzeptieren. Aber Lucas hatte ihm nicht geglaubt. Genauso wenig wie er Linus’ Vorhersage geglaubt hatte, dass die Menschen ihm nicht dankbar sein, sondern dass sie ihm die Schuld geben und ihn am Ende hassen würden.
Und nun kam er zu dem verzweifelten Schluss, dass Linus recht gehabt hatte. Die Menschen hassten ihn tatsächlich. Er sah es in ihren Augen. Die Bürger der Stadt hatten jetzt mehr Angst als je zuvor, und das war seine Schuld, denn trotz seinem ganzen Gerede von einem Neuanfang konnte er nicht verhindern, dass immer wieder Jugendliche verschwanden. Und er hatte absolut keine Erklärung dafür.
Als er auf den Korridor hinaustrat, sah er sofort, dass der Bruder in Begleitung zweier Wachmänner auf ihn zukam. Lucas bemerkte reuevoll, dass die Wachen eher aussahen wie Dienstboten als wie Gefängniswärter.
»Lucas. Harte Zeiten, was?«, sagte der Bruder mit einem Lächeln auf den Lippen. Lucas starrte ihn an.
»Ja«, erwiderte er mit versteinerter Miene, damit der Bruder ihm seine inneren Qualen und seine Selbstzweifel nicht anmerkte. »Und bitte, erspar dir diesen triumphierenden Gesichtsausdruck. Ich weiß ja, dass du dich im Grunde nur für dich selbst interessierst, aber du könntest ja wenigstens so tun, als wärst du besorgt wegen dem, was passiert ist, anstatt so ausgesprochen gut gelaunt aufzutreten.«
»Lucas, das ist eine furchtbare Anschuldigung«, meinte der Bruder, ohne dass das Lächeln aus seinem Gesicht verschwand. »Natürlich bin ich besorgt. Nicht wegen dir, sondern wegen den armen Menschen in dieser Stadt, die sich darauf verlassen, dass du sie beschützt. Aber sie wurden immer wieder enttäuscht. Du bist deinem Vater sehr ähnlich, Lucas. Ich verstehe nicht, warum ich das nicht schon früher erkannt habe.«
Lucas wandte den Blick ab vor Abscheu. Sein Vater war ein Opfer der Regierung des Bruders geworden. Er war zum K herabgestuft worden, als er die Lügen aufgedeckt hatte, auf denen der Bruder die Stadt aufgebaut hatte. K stand für Killable. Lucas erschauerte, wenn er an den Blick seines Vaters dachte, als der ihm sagte, was geschehen würde, dass er sterben würde, dass er Lucas’ Hilfe brauche, dass Lucas niemandem etwas sagen dürfe …
Und jetzt weidete sich der Bruder an Lucas’ Unglück. Lucas hatte noch nie solche Verachtung empfunden wie in diesem Moment. Hätte er Linus’ Rat befolgt und den Bruder vor den Toren der Stadt sterben lassen, wie der Bruder es mit Lucas’ Vater und mit so vielen anderen Opfern getan hatte, wäre vielleicht alles anders gekommen. Aber Lucas hatte es nicht fertiggebracht. Er wollte eine gute und freie Stadt nicht auf einem so rachsüchtigen und barbarischen Akt
Weitere Kostenlose Bücher