Das letzte Zeichen (German Edition)
hast?« Tränen brannten ihr in den Augen, doch es gelang ihr, sie zu unterdrücken. Sie wollte nicht weinen. Sie war zu wütend, um zu weinen. »Weil du ihm folgen musstest? Konntest du es nicht zulassen, dass dein Bruder eine von den kostbaren Regeln der Stadt verletzt?«
Lucas zog eine Braue hoch und schaute dann weg. »Wegen dir?«, fragte er bitter. »Du glaubst, ich hätte …« Er stockte, musste schlucken. Der Muskel über dem Auge pochte noch schneller. »Nein, Evie. Nicht deswegen.«
Evie spürte, wie sich ihr Magen zusammenzog. »Warum dann?«, fragte sie. »Warum ist Raffy ein K? Und warum erzählst du mir, du willst ihm jetzt helfen, wo du ihm doch noch nie helfen wolltest, wo du ihn doch sein Leben lang wie einen Menschen zweiter Klasse behandelt hast und dich selber verhältst wie eine Maschine?«
Sie wusste nicht, wo sie den Mut hernahm, dieses Wort auszusprechen. Lucas’ Blick verfinsterte sich, und sie fragte sich, ob sie zu weit gegangen war. Aber dann nickte Lucas langsam. Er setzte sich auf die Bettkante und schlug die Hände vors Gesicht.
»Es tut mir leid, Evie.« Er blickte zu ihr auf. Sein blondes Haar war zerzaust, und für einen Augenblick sah er nicht nur menschlich aus, sondern auch verletzlich. Evie wollte die Hand ausstrecken, doch sie wusste nicht, wie; sie traute sich selbst nicht. Und überhaupt traute sie ihm nicht. Sie würde ihm nie trauen.
Er atmete tief aus. »Ich war sehr hart mit Raffy. Aber ich wollte ihn beschützen. Er hat nicht erkannt … er hat nicht begriffen … dass das, was er getan hat, seine ganze Art … wie er die Leute angesehen hat … Er hat nicht verstanden, dass ihn das in Schwierigkeiten bringt. Er hat nicht begriffen, dass Dad genauso war. Ich wollte ihn beschützen …« Lucas’ Stimme setzte kurz aus und Evie bewegte sich vorsichtig ein Stückchen näher zu ihm hin. »Dein Vater?«, fragte sie. Raffy sprach so gut wie nie über den Vater. Als man ihn zum K gemacht hatte, war Raffy noch zu jung gewesen, um zu verstehen, was es hieß, böse und gefährlich zu sein. Allerdings hatte er ziemlich schnell erfahren, was das Vermächtnis seines Vaters bedeutete: dass die Leute auf der Hut waren vor ihm, dass sie ihm nicht trauten, und zwar nur weil er so aussah wie sein Vater.
»Unser Vater glaubte an diese Stadt. Er dachte, er könnte von Nutzen sein, wenn er möglichst viel lernte. Aber er hat sich nicht an die Regeln gehalten, nicht an die üblichen Verfahrensweisen. Er hat nicht verstanden, dass die Regeln dazu da sind, um … um …« Wieder ließ er den Satz unvollendet und blickte ins Leere.
»Um was?«, fragte Evie atemlos.
Er blickte ihr in die Augen, dann schüttelte er den Kopf. »Dazu ist keine Zeit. Nicht jetzt. Wir müssen Raffy wegbringen, solange es dunkel ist. Solange alle noch schlafen.«
Evie sah ihn misstrauisch an. Dann setzte sie sich neben Lucas aufs Bett. »Du hast mir nicht erzählt, warum Raffy zum K heruntergestuft worden ist. Und warum es deine Schuld ist, wenn du doch niemandem von mir erzählt hast. Von uns.«
Lucas blickte sich verstohlen um, so als könnte noch jemand im Raum sein, der hörte, was er zu sagen hatte. »Es war die Panne«, sagte er schließlich, und sein Blick verdüsterte sich noch mehr. »Ich habe ihm beigebracht, wie man mit der Technik umgeht und sie beeinflusst. Ich dachte, das könne ihm in Zukunft nützlich sein. Aber er wurde zu gut. Er hat … etwas gefunden. Etwas, das er nicht hätte finden dürfen.«
Evie schnappte nach Luft. Sie erinnerte sich daran, was Raffy ihr über die Panne erzählt hatte – und dass sie ihm nicht geglaubt hatte. »Du meinst … das Kommunikationsprogramm?« Ein Schauer lief ihr über den Rücken.
Lucas blickte sie erschrocken an. »Er hat es dir erzählt? Er hat dir davon erzählt?«
»Ich dachte, er hätte sich das nur ausgedacht. Er hat sich ja immer irgendetwas ausgedacht«, antwortete sie mit brüchiger Stimme.
»Hast du jemandem davon erzählt?« Lucas sah sie eindringlich an und Evie schüttelte den Kopf.
Er schien das zu verdauen. Dann sah er sie wieder an, ganz entschlossen, fast so als blicke er direkt in sie hinein. »Also hilfst du mir? Beschaffst du den Schlüssel?«
Sein ganzes Gesicht schien völlig verändert. Da war nichts mehr von dem Lucas, den sie schon ein Leben lang kannte. Er sah aus wie ein richtiger Mensch. Wie jemand, der sie brauchte. Wie jemand, der sich tatsächlich sorgte um Raffy.
»Du hast es die ganze Zeit gewusst? Und du hast
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