Das letzte Zeichen (German Edition)
war dunkel und still. Sie sah Häuser, Hunderte Häuser, genau wie ihres, in denen Licht brannte. Da drin saßen Familien, genau wie ihre eigene, um den Tisch, spielten Karten oder lasen in den Betrachtungen. Gute Menschen. Arbeitsame Menschen. Sie zog die Vorhänge zu. Wie breit war die Grenze zwischen Gut und Böse? Wie nah waren gute Menschen daran, sie zu überschreiten? War es wie eine dünne Linie auf dem Boden, über die man leicht stolpern konnte, wenn man nicht aufpasste, oder war es eher wie ein Fluss, den man nur bewusst überqueren konnte? Sie hatte willentlich einen Fluss überquert, das wusste sie, und Raffy hatte sie dabei geführt.
Die Tür ging auf und Evie blickte ängstlich hoch. Es war ihr Vater. Das Mondlicht tanzte auf seinem Gesicht und zeichnete die dunklen Schatten um seine Augen nach. Er setzte sich ans Fußende des Bettes. »Entschuldige, dass ich dich so spät noch störe.«
»Ist schon in Ordnung«, sagte sie unsicher und schaute auf die Uhr auf ihrem Nachttisch, und ihr Magen zog sich zusammen, als sie sah, dass es fast Mitternacht war. Normalerweise schliefen ihre Eltern spätestens um zehn. »Es tut mir leid«, sagte sie. »Es tut mir leid, was ich zu Mutter gesagt habe. Ich habe es nicht so gemeint.«
»Du hast dich mit deiner Mutter gestritten?«, fragte ihr Vater bekümmert.
»Ja. Ich … Ich dachte, du bist deswegen gekommen«, sagte Evie und runzelte die Stirn.
»Nein. Ich komme gerade von einer Besprechung mit den Schlüsselhütern. In der Stadt ist jemand Böses aufgespürt worden, Evie. Es soll eine zweite Neutaufe geben.«
Evie spürte, wie ihr der Schweiß ausbrach. Redete er von ihr? War er gekommen, um ihr zu sagen, dass sie zur K erklärt worden war? Nein, bitte nicht! Sie würde sich ändern. Sie würde … Sie bemerkte, dass er sie erwartungsvoll ansah, und fasste sich.
»Ja, Vater«, flüsterte sie.
»Evie, da ist noch etwas.«
Eine Vorahnung zog sich über Evie zusammen wie eine dunkle Wolke; es war der Ausdruck auf dem Gesicht ihres Vaters. Sein Zögern, die Weigerung, ihr in die Augen zu schauen. Es ging doch um sie. Sie kamen, um sie zu holen. Sie war die K. Sie begann zu zittern.
»Evie, ich fürchte, der Böse ist … Raphael.«
Evie blickte entsetzt hoch. »Raffy? Nein!« Sie zitterte noch heftiger.
»Das System hat entschieden«, meinte ihr Vater sanft. »Es steht uns nicht zu, darüber zu urteilen. Aber ich weiß, dass du und er …«
Er holte tief Atem. »Ihr wart einmal Freunde. Du heiratest seinen Bruder. Aber ich bin sicher, dass es keine negativen Auswirkungen auf Lucas hat. Er ist ein guter Mann. Ich will nicht, dass du dir Sorgen machst.«
»Du willst nicht, dass ich mir Sorgen mache?«, keuchte Evie. »Raffy ist nicht böse … Ganz bestimmt nicht. Er …«
»Der Bruder hat mir selbst gesagt, dass Lucas die entscheidenden Informationen für das System beschafft hat«, erklärte der Vater und legte ihr die Hand auf die Schulter. »Und dass er dem Bösen so nah gekommen ist, wird an meiner Meinung über ihn nicht das Geringste ändern. Also, schlaf jetzt, Evie. Morgen wird ein anstrengender Tag.«
Evie konnte nicht sprechen. Schweigend sah sie ihrem Vater nach, wartete, bis seine Schritte im Schlafzimmer der Eltern verklangen und die Tür dort geschlossen wurde.
Ihr Verstand arbeitete wie wild. Sie stand auf, blickte sich verzweifelt im Zimmer um und begann, sich anzuziehen. Sie musste zu Raffy, musste ihn warnen. Sie wusste nicht, wie, aber sie musste es irgendwie schaffen. Wenn er eine zweite Neutaufe erhielt, dann würde sie ihn nie wiedersehen, und das konnte sie nicht ertragen. Sie würden weglaufen, weit weg von diesem schrecklichen Ort, von dieser Stadt, die behauptete, sie sei voller Güte, ohne zu wissen, was Güte überhaupt war – wie sollte sie auch, wenn ein Mann wie Lucas, der seinen eigenen Bruder verriet, als Inbegriff des Guten galt? Lucas war der, der böse war. Er war mehr als böse. Er war …
Sie hörte ein Geräusch. Es klopfte ans Fenster. Ein Gefühl der Erleichterung durchströmte sie! Das war Raffy. Er war entkommen. Er war hier. Er war in Sicherheit. Sie zog die Vorhänge auf und zog am Griff, um das Fenster zu öffnen. Ihre Nackenhaare stellten sich auf: Denn es war nicht Raffy, den sie sah. Es waren zwei blaue Augen. Zwei abscheuliche, gefühllose Augen, die sie anblickten, und ihr erster Impuls war, das Fenster wieder zu schließen, Lucas auszusperren, ihn von der Mauer zu stoßen, die er heraufgeklettert
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